''Chau Tran''
© CHAU TRAN (QING LIAN)    ''Qing Lian''
© CHAU TRAN (QING LIAN)

CHAU TRAN, geboren 1949 im Süden von Vietnam als Sohn südchinesischer Eltern aus der Provinz Kanton, China.
Chinesischer Name Chen Ying Yi 陳英義, Künstlername QING LIAN 青濂.

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Diese kurze Erinnerung meiner Lebensgeschichte ist zum Andenken an enge Freunde meiner Familie, meine Kunstkollegen und Kameraden sowie meiner Freunde. An meine Familie besonders meine Eltern, die fast ihr ganzes Leben für uns geopfert hatten.

- im Frühjahr 2016 - Chau Tran (Qing Lian)


© CHAU TRAN (QING LIAN)



In der Strömung des Flusses






Inhaltsverzeichnis:

Der Anfang
Neuer Lebensabschnitt
Invasion 1968
Der Künstlername 青濂 (Qing Lian / türkis-grün-blauer klarer Wasserfall)
Die Wende
Im Dienst des Millitärs
30. April 1975 - Ende einer Republik, "Ngày Quốc hận / Tag des nationalen Hasses"
Der Aggressor an der Macht - Der neue Staat, die "Sozialistische Republik Vietnam"
       Bücherverbrennung, Freiheitsentzug, Propagandapolitik
       Kinder als Werkzeug der Partei
       Unter totalitärer Kontrolle
       Erinnerung an die Jugendzeit
       Der Krieg und seine Opfer - Schicksal eines Nachbarn
       Propaganda - Eine der Inszenierungen
       Wirtschaftliche Enteignung – Das Leben danach
       Die "Ba Mươi Tháng Tư /30.4.", die Diener des Siegers
       Unter der Herrschaft der Kriegsverbrecher
       Die Entscheidung
       In auswegloser Situation
       Die Wahrheit über die "Befreiung"
       Angst, Sorgen und Elend
       "Wenn die Bäume Beine hätten . . . . . . . . "
       Ein Risiko eingehen
       Im Zweifel
       "Der Gewinner ist der König . . . . ."
       " . . . . . dann ist das Leben für mich qualvoll . . . . . "
       "Paradies" und Hölle
       Das war eine Zeit . . . . . . vom Sturm zerstört
       Im Teufelskreis der Ungerechtigkeit
       " . . . . . die Seele eines Menschen in einen Käfig zu sperren . . . . . "
       Sehnsucht
       Wie ich befürchtete . . . . .
Die zweite Not
Gespräch unter Vertrauten
Die neuen Anhänger des "Führers"
Der erste Anblick des "Führers"
Politische Ausbildung


Der Anfang

Ich wurde im Jahr 1949 in Ba Xuyên, einer Provinz im Süden von Vietnam geboren, unter einem guten Stern! In der Familie 陳(Chen) als Nachname, nach den Regeln des Ahnenbuches der Familie als Mittelname 英(Ying) und als Vorname 義 (Yi). Für die vietnamesische Geburtsurkunde: Nachname Trần (陳), Vorname Châu (洲). In westlicher Schreibweise: Tran, Chau.

Meine Eltern waren als Kinder wegen der japanischen Kriegsverbrechen in China, bei denen auch wehrlose Zivilisten und Kinder massakriert wurden, ins Ausland geflüchtet. Als Erwachsene hatten meine Eltern sich in Südvietnam kennengelernt und geheiratet.
Wir lebten in einer kleinen Provinzstadt und haben in einem Haus am Fluss gewohnt, der einen weiten, freien Blick hatte, genauso wie später das Haus in Saigon nach 1957. Mein Vater war oft auf Geschäftsreise und nicht zuhause. Meine Mutter regelte den ganzen Haushalt alleine mit vier Kindern. Es gab damals weder Waschmaschine, noch Kühlschrank oder elektrischen Herd und auch noch kein Leitungswasser. Jedes Haus hatte am Ufer eine Anlegebrücke, an der das Transportboot das Trinkwasser anliefern konnte. Ich weiß nicht, wie meine Mutter alles geschafft hat: Täglich einkaufen auf dem Markt, kochen, waschen, bügeln und . . . und . . . . und . . . . Meine Mutter musste uns sehr lieb gehabt haben, sonst würde sie das nicht geschafft haben. Erst als wir mit unserer Schwester fünf Kinder waren, bekam meine Mutter eine Haushaltshelferin.
Ich schaute als Kind gerne zu, wie meine Mutter arbeitete, besonders beim Bügeln und Kochen. Meine Mutter kochte leidenschaftlich, nicht nur chinesisch, auch vietnamesisch. Als Kind hatte ich schon erfahren, dass ab und zu die Nachbarn bei meiner Mutter um Kochtipps baten. Es war für mich so interessant beim Kochen zuzuschauen und zu verfolgen, wie meine Mutter vorbereitete und kochte bis das Gericht fertig war. Dämpfen, kochen, braten, backen von normalen, alltäglichen Gerichten und Süßigkeiten und Gerichte für festliche Tage hatte ich dann irgendwie in meinem Gedächtnis gespeichert. Denn ich hatte noch nicht selbst in der Küche gekocht, und als ich 1979 allein in Deutschland lebte, fing ich an zu kochen und es fühlte sich so an, als ob ich schon immer gekocht hätte.

Wenn mein Vater von der Geschäftsreise zurückkehrte, hatte er immer etwas mitgebracht, was uns gefiel. Für uns, die Kinder, waren es Bonbons in bunten Blechdosen mit verschiedenen Formen, es war damals ein Luxus.
Rechts von unserem Haus ca. 200m entfernt, befand sich ein kleiner Marktplatz am Ufer. Gegenüber dem Marktplatz war über die Straße dann ein großer Platz. Am Ende des Platzes stand ein Bühnenhaus, in das meine Eltern mit uns ab und zu in die Oper gingen. Als ich noch nicht sechs Jahre alt war, sind meine Mutter und meine beiden älteren Brüder hineingegangen, meine Schwester und ich mussten wegen unseres Alters mit unserem Vater wieder nach Hause gehen. Ich sollte schlafen, aber ich war so gespannt, was meine Brüder nachher über die Oper erzählten. Durch das Mückennetz sah ich, dass mein Vater immer noch im Schein des Glühstrumpfes der Gaslampe arbeitete. Mein Vater war immer schon ein fleißiger Mensch, ich wollte aus dem Mückennetz hinaus zu ihm gehen und sehen was er arbeitete, aber ich sollte schlafen! Mein Vater hatte das irgendwie bemerkt und kam ab und zu zu mir, und tröstete mich. "Im nächsten Jahr, wenn du älter bist, kannst du mit in die Oper gehen." Dann erzählte er mir ungefähr die Handlung des Stückes. Ich bin dann langsam eingeschlafen.

Die großen bemalten Leinwände, die vor den Bühnenhäusern für Opern oder Kinofilme warben, hatten mich schon immer fasziniert, schon damals als Kind. Damals gab es noch keine gedruckten Plakate und der Maler hat die Szene des Stückes ausgesucht, welches das Publikum am Besten ansprechen könnte, dann wurde es auf der Leinwand präsentiert. Manche gemalten Leinwände haben mich sehr angezogen und ich hätte dem Maler gerne bei der Arbeit zugeschaut.

Meistens fuhr mein Vater mit uns nach dem Abendessen, schonmal ohne meine Mutter mit dem Taxi oder der Rikscha aus der kleinen Stadt hinaus, wo die Landstraße bis zum Horizont führte. An beiden Seiten der Straße waren Reisfelder, die auch bis zum Horizont gingen. Es war fast kein Haus zu sehen, keine Bäume, und es gab auch keinen Straßenverker dort. An der linken Seite des Horizontes sahen wir ein Gebäude. Mein Vater erzählte, das sei der Flughafen von Sóc Trăng. Wir wünschten uns, einmal mit dem Flugzeug zu fliegen.
Wir saßen auf der breiten Wiese des Straßenrandes. Mein Vater war oft sehr ruhig und entspannt, wir pflückten wilde Blumen, spielten und beobachteten die Insekten bis fast zum Sonnenuntergang. Das Taxi oder die Rikscha wartete solange auf uns, sonst könnten wir nicht zurückfahren. Später flog ich mit meinem Vater, meiner Mutter, meinen zwei älteren Brüdern, einer jüngeren Schwester und einer Haushaltshilfe nach Saigon. Fliegen, dorthin wo mein Vater arbeitete, ein Erlebnis. Wir wurden von den Freunden und Bekannten meines Vaters sehr gut empfangen! Die Hauptstadt von Südvietnam und die kleine Provinzstadt waren für uns im Vergleich wie Himmel und Erde!

Als ich fünf Jahre alt war ging ich in die chinesische Schule. Nach einem Jahr fand ich die Schule langweilig, der beste Schulkamerad von mir sagte auch: "Die (Lehrerin) wiederholt es dauernd! Und wir müssen das auch. Ich kann schon alles." Wir haben uns ab und zu im Unterricht unterhalten, erzählten und wurden deshalb oft von der Lehrerin ausgeschimpft.

An einem Nachmittag, meine Mutter unterhielt sich mit Tante 林 (Lin) im Vorzimmer (In der chinesischen Sprachkultur bedeuten Worte wie "Tante", "Onkel" auch enge Freunde der Familie, anders als in der deutschen Sprache, in der "die Tante da" oft nicht positiv gemeint ist). Ich saß am Tisch und versuchte Papier zu Tierfiguren zu falten nach der Vorlage, die Tante Lin mir geschenkt hatte. Plötzlich erschien die Mutter meines besten Schulkameraden und nach einer normalen Begrüßung sagte sie: "War sie schon bei Ihnen, die Lehrerin? Sie hat sich beschwert, dass mein Sohn dauernd während des Unterrichts mit ihrem Sohn spielt und nicht lernt. Mein Sohn ist unterfordert . . . . . . Die sollten jeden Schüler individuell unterrichten. Ich war auch mal Lehrerin . . . . . ." Die Situation kam zu plötzlich, meine Mutter wusste noch nicht, wie sie sich dazu äußern sollte, da sagte Tante Lin: "Beruhigen sie sich, es wird geregelt werden." Die Mutter meines besten Schulkameraden verabschiedete sich, die Ruhe kehrte zurück.
Nach ca. 20 Minuten als ich gerade meine Papierfigur meiner Mutter und Tante Lin zeigte, erschien meine Lehrerin: "Ich möchte mit Frau 陳 (Chen) sprechen." "Frau 张 (Zhang), bitte nehmen Sie Platz", antwortete meine Mutter. Ich lief sofort zu meinem Tisch zurück. Die Lehrerin war überfordert, hatte Stress, sie erzählte, dass sie bei den Eltern meines Schulkameraden war und so enttäuscht von deren Verhalten war, sie seien nicht vorbildlich . . . . . und . . . . und . . . . und . . . . Dann sprach sie über mich. Erzählte, was ich im Unterricht getan hatte . . . . . usw . . . . . Ich hörte dann die Stimme von Tante Lin: "Ying Yi, komm und bring deine Bücher mit." Ich kam zu ihr. Tante Lin: "Welche Lektion hast du heute gelernt, lies mal vor!" Ich las unverzüglich vor und erklärte sogar den Inhalt. Als ich die nächste Lektion weiterlesen möchte, die ich mit Tante Lin schon gelernt hatte, unterbricht sie mich: "Ying Yi, das reicht", dann zu der Lehrerin: "Frau Lehrerin, er hat im Unterricht nichts versäumt, er hat alles verstanden!" Die Lehrerin hatte nichts mehr zu sagen. Sie war ein wenig ruhig geworden und verabschiedete sich höflich!

Eine Woche später, hatte meine Klasse wie immer am dritten Tag früher Schluss. Ich ging zum Sportplatz der Schule. Damals wie heute, gibt es an fast jeder chinesischen Schule einen Sportplatz. Fast alle Sportplätze von chinesischen Schulen im Ausland befinden sich an einem chinesischen göttlichen Tempel oder Ahnentempel, der auch die Adresse der chinesischen Assoziation ist. Der Sportplatz dient auch für Tempelfeste und als Zuschauerplatz für chinesische Opernbühnen. Rund um den Sportplatz, hinter oder an beiden Seiten sind Klassenzimmer.
Ich kletterte auf den Rücken eines Steinlöwen vor dem Eingang des Tempels, holte die Bücher aus der geflochtenen Schultasche heraus, blätterte zur Lektion, die heute unterrichtet worden war und las mit sehr lauter Stimme. Ich las so laut, dass die Lehrerinnen und Lehrer zu den Klassenzimmerntüren kamen und mir staunend zuschauten. Während ich weiterlas hörte ich im Hintergrund: "Das ist bestimmt ein Schüler von Frau Zhang, die haben heute früher Schluss", sagte eine Lehrerin. "Bestimmt", sagte eine andere. Ich ließ mich nicht beeindrucken und las weiter. Plötzlich tippte jemand an meine Schulter, ich drehte mich um, es war ein Lehrer: "Wie heißt du, bist du in der Klasse von Frau Zhang?" "Ja, ich soll lernen", anwortete ich. "Du bist fleißig, . . . du sollst nach Hause gehen, deine Eltern warten schon auf dich. Wenn du spät nach Hause kommst, machen sie sich Sorgen um Dich . . . . . ." "Ja", ich packte die Bücher in die Tasche und ging.

Am nächsten Tag erschien meine Lehrerin nicht zum Unterricht, sie war krank! Ein Vertreter hatte uns nur bis zur ersten Pause unterrichtet, dann schickte er uns nach Hause. Auf dem Weg nach Hause erzählte ich meinem besten Schulfreund, was gestern passiert war. Er sagte: "Jetzt kann sie nicht mehr sagen, dass du nicht lernst. Sag mir beim nächsten Mal Bescheid, ich komme mit."

Einen Tag später, es war später Nachmittag, Tante Lin und meine Mutter waren konzentriert in einem Gespräch, erschien meine Lehrerin Frau Zhang und sprach sofort mit einem ärgerlichen Ton: "Frau Chen, . . . . ihr Sohn hat wieder die anderen Schüler beim Unterricht gestört. Diesmal die ganze Schule." Tante Lin fühlte sich bei ihrem Gespräch gestört. Als meine Lehrerin noch weiter erzählen wollte, sagte Tante Lin: "Ja, man hat mir schon alles davon erzählt. Ich habe auch schon erfahren, dass sie, Frau Zhang, sich bei fast allen Eltern ihrer Schüler über dies und das beschweren! Frau Zhang, manche Eltern müssen schon hart arbeiten, um die Kosten für das Überleben mit drei Mahlzeiten zusammenzubekommen, es kommen noch Schuluniform und Lernmaterial für die Kinder dazu. Als Lehrerin könnten sie behilflich sein, einen Teil der Erziehung der Kinder den Eltern abzunehmen. Das sind alles nur Kinder, man kann ihnen noch etwas beibringen, die Eltern wären ihnen dankbar!" Die Lehrerin fühlte sich von Tante Lin belehrt und fragte: "Wer sind sie, darf ich das erfahren?" Tante Lin wollte eigentlich nicht, anwortete dann aber: "Ich bin Frau Lin, Vorstandsmitglied der chinesischen Assoziation." Die Lehrerin: "Entschuldigung für die Störung." Meine Mutter: "Es wird nicht noch einmal vorkommen." Die Lehrerin hatte nichts mehr zu sagen, drehte sich um und ging, als ob sie es sehr eilig hätte.

Nach der Beschwerde der Lehrerin Zhang hatte der Direktor der Schule meine Mutter (mein Vater war auf Geschäftsreise), die Eltern meines besten Schulfreundes, ein anderes Elternpaar und uns Kinder zu einem Gespräch eingeladen. Auf vorherige Empfehlung von Tante Lin beschloss der Direktor, dass wir in einer höheren Klasse unterrichtet werden sollten. Wir waren mit dem Ergebnis des Gespräches einverstanden.

Meine Mutter hatte mir später erklärt: Tante Lin wurde in den Vorstand der chinesische Assoziation gewählt, der Vorstand der Gesellschaft organisierte die Spenden, die chinesischen Schulen, Krankenhäuser und Tempelfeste. Die Leute der Gesellschaft waren sehr angesehen.

Zwischen Tante Lin, ihrer Tochter und unserer Familie entstand über die Jahre nicht nur ein sehr vertrauensvolles Verhältnis, sondern auch eine familiäre Freundschaft.
Die Zeit verging . . . . . . und später, als wir schon fast zehn Jahre in Saigon gelebt hatten, erfuhren wir von Tante Lin's Tocher, dass sich Tante Lin von der Welt verabschiedet hatte. Mein Mutter war sehr traurig, wir auch. Tante Lin und ihre Tochter waren zwei der engen Freunde unserer Familie und besonders Tante Lin und meine Mutter waren vertraute Gesprächspartner.
Als die Tochter uns später in Saigon besuchte, erzählte sie, dass sie beim Besuch ihrer Mutter, wie immer für beide zusammen das Abendessen kochte. Nach dem Essen, wie üblich, spülte die Tochter das Geschirr ab, Tante Lin saß auch wie gewöhnlich auf ihrem Sessel und beide unterhielten sich über alle möglichen Themen. Dieses Mal hatte Tante Lin ein Fotoalbum in der Hand. Sie blätterte während des Gespräches durch. Als die Tochter keinen Ton mehr von Tante Lin hörte, drehte sie sich um und sah, dass ihre Mutter den Kopf an den Lesesessel lehnte und eingeschlafen war. Die Tochter hatte gedacht, dass der heutige Ausflug für ihre Mutter wohl ein wenig zu anstrengend war. Als das Geschirr fertig gespült war, kam sie zu ihrer Mutter, wollte das Fotoalbum aus den Händen ihrer Mutter nehmen, aber sie konnte es nicht, weil die Mutter es sehr fest hielt. Da merkte sie, dass ihre Mutter nicht mehr atmete. Es war das erste Fotoalbum mit den Fotos, als Tante Lin noch ein Kind war, mit ihren Eltern in ihrem Elternhaus in China, Fotos von glücklichen Tagen mit ihrem Mann und Tocher in China, Fotos mit meiner Mutter, sowie das Gemeinschaftsfoto, als sie zum ersten Mal in den Vorstand der chinesischen Assoziation gewählt wurde.

Unsere Familie wurde als erstes von der Tochter per Telegramm informiert. Damit 霜兰 (Shuang Lan, Tochter von Tante Lin) sich nicht so allein fühlte, nahm mein Vater sich Zeit, obwohl er beschäftigt war, in die Provinzstadt zu fahren, um bei der Beerdigungszeremonie zu helfen. Meine Mutter wollte unbedingt auch hinfahren, konnte das aber nicht, weil meine jüngeren Geschwister noch klein waren und sie brauchten. Es kamen hunderte von Menschen zu der Beerdigung, weil Tante Lin in der Gesellschaft sehr angesehen war. Es war sehr aufwändig, obwohl sie, wie mein Vater später erzählte, zu Lebzeiten geäußert hatte, dass sie eine einfache Beerdigung unter engsten Freunden gewollt hätte.

Meine Mutter hatte uns erzählt, dass Tante Lin in einer wohlhabenden Familie in China aufgewachsen ist und 16 Jahre älter als meine Mutter war. Sie hatte studiert und wollte als Lehrerin arbeiten gehen, aber ihr Vater hatte kein Verständnis dafür.
In der Zeit in China, Vietnam und einigen asiatischen Ländern gingen die Frauen arbeiten, nur wenn die Familie in Not war. Besonders bei wohlhabenden Leuten wurde dadurch das Ansehen des Mannes oder der Familie beschädigt.
Ihr Vater hatte für sie einen Mann derselben gesellschaftlichen Schicht ausgewählt, den sie heiratete. Tante Lin hatte Glück, dass ihr Mann auch studiert war und ein modernes Leben führte. Die beiden verliebten sich auf den zweiten Blick und brachten glücklich eine Tochter zur Welt. Als die japanischen Kriegsverbrecher China angriffen, meldete der Mann sich freiwillig zum Kriegsdienst gegen die Japaner. Das Schicksal hat irgendwie dem Paar das Glück nicht gegönnt und der Mann wurde tödlich verletzt. Mit ihren leiblichen Eltern und ihrer Tochter gelang zusammen die Flucht aus China. In Südvietnam hat sie schliesslich meine Mutter kennengelernt. Tante Lins Tochter hatte später auch studiert und ist Lehrerin geworden.

Tante Lin liegt mir heute immer noch am Herzen. Wenn ich an ihren Tod denke, werde ich irgendwie traurig. Aber, dass sie uns sanft verlassen hat, gibt mir wieder ein gutes Gefühl. Tante Lin, eine Frau, die sich sehr für die Gesellschaft engagierte, zuverlässig, glaubwürdig und herzlich.

Im Jahr 1954 wurde Vietnam durch das Genfer Abkommen (Indochinakonferenz) am 17. Breitengrad geteilt. Anstatt nach Norden abzuziehen, blieb ein Teil der Kommunisten in Südvietnam und bildete die Front der Befreiung Südvietnams, genannt Việt Cộng und erklärte, für die Einigung von ganz Vietnam unter dem Kommunismus zu kämpfen. Außerdem kam es noch zum Aufstand der Khmer (Kambodschaner), die einen Teil ihres Landes von Südvietnam zurückerobern wollten. Ursprünglich, von früherer Zeit bis zu Französisch-Indochina-Zeiten gehörte dieser Teil zu Kambodscha. Die erste südvietnamesische Regierung zwang die Chinesen, die südvietnamesische Staatsangehörigkeit anzunehmen, nur so konnte man die Chinesen zum Militärdienst einberufen, damit sie für Südvietnam kämpfen. Sonst hätten die Chinesen unter schwerwiegenden wirtschaftlichen Einschränkungen zu leiden gehabt. Das hatte auch zu Unruhen innerhalb der chinesischen Gesellschaft in Südvietnam geführt, denn die meisten Chinesen wollten sich nicht an einem Krieg beteiligen.


Neuer Lebensabschnitt

Im Jahr 1957 war die Lage in der Provinz Südvietnams sehr unruhig geworden. Mein Vater war oft auf Geschäftsreise und ich kann mich noch daran erinnern, dass meine Mutter uns in manchen Nächten weckte und wir uns auf den Boden legen mussten, wegen der Straßenschießereien der beteiligten Parteien: die Khmer, die Việt Cộng und die Soldaten von Südvietnam. Am nächsten Morgen sahen wir, dass unsere Schränke von Patronen durchbohrt waren. Die Nachbarn kamen zusammen, um über die Situation zu diskutieren und sich bei der Regierung zu beschweren, ohne Erfolg. Im selben Jahr entschieden meine Eltern nach Saigon umzuziehen. Zwei enge Freunde unserer Familie kamen später nachgezogen, Tante Lin wollte die Chinesen in der Provinz noch weiter betreuen. Beim Abschied sagten meine Eltern zu ihr, dass sie sobald wie möglich nachkommen soll, wenn sie kann. Tante Lin sagte zu mir: "Du schreibt mir", und zu meinen zwei älteren Brüdern "und du . . du schreibst mir auch." Wir anworteten: "Ja, liebe Tante Lin, komm schnell nach."

Saigon, in der Indochinazeit "Perle von Fernost" genannt, war für Reiche -wie überall auf der Welt- ein Paradies, für Arme die Hölle. Die Spuren der Koloniezeit konnte man sehr deutlich sehen.

Ich besuchte weiter die chinesische Schule, aber jetzt ganztags, weil nach dem neuen Gesetz, mussten die chinesischen Schulen nicht nur die vietnamesische Sprache lehren, sondern alle Fächer sowohl in vietnamesisch als auch chinesisch. Eine Hälfte war für die Schüler doppelt wie z.B. Physik, Chemie, Mathematik. In vietnamesischen Schulen gab es nur Halbtagsunterricht, entweder vormittags oder nachmittags. Natürlich war diese Regelung noch großzügig im Vergleich zu den Kommunisten im Norden: Dort gab es überhaupt keine chinesischen Schulen.

Nach sechs Jahren machte ich den Abschluss auf der chinesischen Schule. Mein Vater und ich entschieden, dass ich einen persönlichen Eignungstest machte, dessen Ergebnis uns bestärkte, mich direkt die Oberstufe der vietnamesischen Schule besuchen zu lassen. Der erste Grund: Das Abschlusszeugnis der vietnamesischen Schule ist offiziell mehr anerkannt als das chinesische. Wenn man möchte, kann man damit studieren, obwohl man kann auch auf chinesisch fernstudieren über eine taiwanesische Universität, so hat es mein älterer Bruder getan. Der zweite Grund: An den gewonnenen halben Tagen kann ich mich darauf konzentrieren chinesische Geschichte und Literatur zu lernen. Dafür gab es die "培才学校 (Pei Cai Xue Xiao)/Talentförderschule", eine private chinesische Schule, in der alte chinesische Literatur und Geschichte unterrichtet wird.
Gleichzeitig konnte ich auch chinesische Tuschemalerei studieren. Zuerst bei Meister 陈树 (Chen Shu), aber nach einer kurzen Zeit entdeckte er, dass ich mehr für die Malerei der Literatenrichtung geeignet war und vermittelte mich zu Meister 陈宾杨 (Chen Bin Yang). Nach ca. ein paar Monaten wurde Meister Chen Bin Yang zum Militärdienst gerufen. An seine Stelle kam Professor Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing). Ein Meister der chinesischen Tuschemalerei, der auch Kenntnisse im westlichen Kunsthintergrund insbesondere im Bereich Aktzeichnung, Perspektive und Öl hatte. Danach hatte ich das Glück, dass der Professor 林清霓 (Lin Qing Ni) aus Hongkong eine Zeit in Saigon lebte und ich ihm Ausstellungen organisieren helfen und ihm bei seiner Arbeit über die Schulter schauen konnte. Das hat meinen Kunsthorizont sehr erweitert. Natürlich durfte auch Kalligraphie nicht fehlen, diese habe ich bei Meister 吴铁樵 (Wu Tie Qiao) studiert. Später besuchte ich auch die Kunstakademie in Saigon, für Zeichnungen und Ölmalerei. Dabei habe ich herausgefunden, dass ich mehr Gefühl und Leidenschaft für die chinesische Malerei habe.

Dieses Gefühl für diese Kunst, habe ich im Alter von 14 Jahren bei einer Ausstellung eines Meisters der chinesischen Malerei aus Taiwan schon stark gespürt. Er hatte mehr als 50 Bilder nur Bambus in chinesischer Tusche gemalt. Ich fühlte mich dadurch sehr angezogen und habe die Ausstellung mehrere Male besucht und zuhause selber leidenschaftlich versucht, das selbst zu malen. Diese Leidenschaft war der Hauptgrund für mich und überzeugte auch meinen Vater, dass ich mich entschieden hatte, chinesische Tuschemalerei, Geschichte und Literatur zu studieren.


Invasion 1968

Chinesisches Neujahr (gleichzeitig vietnamesisches Neujahr) im Jahr 1968: Trotz des Vietnam-Krieges und der in großen Städten und Hauptstädten wie Sài Gòn (Saigon) immerwährenden Gefahr eines Raketenbeschusses von den Kommunisten feierten die Menschen und die Stadt war trotzdem voller festlicher Stimmung. Man dachte, der Krieg sei von Saigon noch ein wenig entfernt.

Die Ahnen- und Gottesaltare in jedem Haus waren mit besten Opfergaben und Blumen von Herzen bestückt. Die Räucherstäbchen dufteten bis an die Haustüren. Die Erwachsenen waren mit den traditionellen Sitten und Gebräuchen beschäftigt und beteten für Gesundheit und dass der Krieg bald vorbei sei. Denn jede Familie hatte in ihren Reihen jemanden, der sich am Krieg beteiligt, auch meine zwei älteren Brüder wurden zum Kriegsdienst eingezogen. Wenn man genau hinschaute, waren die Sorgen in die Gesichter jedes Erwachsenen geschrieben. Auch in denen meiner Eltern.

Die Kinder waren sorglos. Wie üblich hatten sie zu diesem Fest neue Kleidung an und bekamen von den Eltern Geld in einem kleinen, roten Umschlag. Sie zeigten und erzählten sich gegenseitig stolz, wieviel sie von den Eltern geschenkt bekommen hatten und was ihre Familie auf dem Altar geopfert hatte. Überall in jeder Straße und Gasse hörte man die Explosionen von Neujahrs-Böllern und -Krachern. Nicht nur die Jugendlichen sondern auch die Erwachsenen zündeten die Böller und Kracher an, um das Böse zu vertreiben und das Glück zu empfangen.

Nachdem ich das Wohnzimmer festlich geschmückt hatte, klebte ich die Neujahrsspruchpaare an die Türen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass oben über der Haustür stand: "五福临门 / Fünffaches Glück kommt über die Familie." Rechte Seite der Tür: "天增岁月人增寿 / Der Himmel vermehrt sich in Jahren und Monaten, der Mensch verlängert sein Leben." An der linken Seite der Tür: "春满乾坤福满堂 / Voller Frühling auf der Erde und volles Glück im Empfangssaal." Das waren berühmte, übliche Wandsprüche, die sehr gut in die Zeit passten und auch was die Menschen in der Zeit brauchten.

Man glaubte, womit man sich am Neujahrstag beschäftigte oder was man dann bekam, damit beschäftigte man sich und bekommt ebendas auch das ganze kommende Jahr. Deswegen beschenkte man die Kinder mit Geldtüten, als Symbol für Wohlstand. Das ist für mich auch heute noch ein Aberglauben, aber wenn ich das geschenkt bekam, freute ich mich trotzdem! Ich hatte in dem Moment vor, die fröhliche Stimmung auf dem Xuan-Papier festzuhalten. Ich bereitete mich vor, ein Bild mit eben dieser Stimmung zu malen. Die Tusche wurde gerieben, die Pflanzen- und Mineralfarben wurden vorbereitet. Nach kurzer Zeit war alles bereit zum Malen. Um den Frühling zu empfangen sollte ein Bild mit verschiedenen Blumenarten gemalt werden. Zuerst fing ich an mit einem Zweig von chinesischen Pflaumenblüten, einer Blüte, die das Symbol für Unbeugsamkeit und Aushalten ist und das fünffache Glück bringt . . . . . . . . Es fehlen für diese erste Blumenart nur noch die Staubgefäße. Als ich sie fertig malen möchte, rief mein Vater plötzlich: "Yi (mein chinesischer Name), komm mal hören."
Im Radio hörten wir die Stimme des Präsidenten von Südvietnam, Nguyễn Văn Thiệu: "An das Volk. Ich bin der Präsident der Republik Vietnam. Das gesamte Volk soll bitte sofort aufhören, Feuerwerk zu zünden. Alle Offiziere und Soldaten, die im Urlaub sind, sollen sofort mit allen Möglichkeiten zu ihren Einheiten zurückkehren. Invasion der Kommunisten. Alle Bürger sollen im Haus bleiben und das Radio und Fernsehen dauernd eingeschaltet lassen und die Berichte verfolgen." Diese Aussage wurde im Minutentakt im Radio dauernd und ununterbrochen wiederholt. Mein Vater hatte mir auf die Schulter geklopft. Ich rannte sofort aus dem Haus und rief laut: "Bitte alle sofort mit dem Anzünden von Böllern aufhören und das Radio einschalten. Invasion der Kommunisten! Invasion der Kommunisten!" Ich informierte noch einen Teil der Nachbarn und empfahl ihnen, die Nachricht weiterzugeben. Alle Neujahrsprogramme des Radios und des Fernsehens wurden gestrichen, es gab nur noch die Ansage des Präsidenten Nguyễn Văn Thiệu in dauernder Wiederholung.

Die Armee des kommunistischen Nordvietnam und die Việt Cộng hatten geplant, dass in dem Moment, in dem die Menschen in Südvietnam den Krieg vergessen hatten und voller Stimmung für die Neujahrsfeiern waren, den Moment auszunutzen, um die Invasion zu ermöglichen. Die Gewehrschüsse sollten die Armee von Südvietnam und die Bevölkerung mit Böllern und Krachern verwechseln.

Obwohl es eigentlich ein Waffenstillstandsabkommen gab, hatte die kommunistische Seite immer wieder die Vereinbarung gebrochen. Auch viele große Städte in Südvietnam wurden von ihnen unter Raketenbeschuss genommen und viele wehrlose Zivilisten getötet. Wie Medien berichteten, hatten die Kommunisten vorher sogar von sich aus einen Waffenstillstand für die drei Neujahrstage vorgeschlagen, der dann von beiden Seiten vereinbart worden war. Deswegen wurden 50% der Soldaten Südvietnams beurlaubt, damit sie nach Hause gehen und mit ihren Familien zusammengeführt das Neujahrsfest feiern können, wie es Tradition ist. Vergleichbar ist das mit dem Heiligen Abend im Westen.

Ohne Vorwarnung hatten die Armee der Volksrepublik des sozialistischen Nordvietnam und die Front der Befreiung Südvietnams (Việt Cộng) viele Orte und Städte Südvietnams angegriffen. Hauptziele waren natürlich auch die Städte Saigon, der Regierungssitz, an dem sich auch die US-Botschaft befand, und Huế, die königliche konservative Stadt, die viele Traditionen, Sitten und Gebräuche laut der Lehre von Konfuzius, Laotse und Buddha noch streng befolgte.

Die Armee des kommunistischen Nordvietnam und die Việt Cộng drangen in Saigon in die Häuser der Zivilisten und nahm diese als Schutzschild, darunter war auch die Familie eines ehemaligen Schulkameraden von mir. Sie zwangen die Leute sie zum Präsidentenpalast, Regierungssitz, der US-Botschaft und zur Fernseh-/Radiostation zu führen. Sie sprengten Löcher in die seitlichen Wände der Häuser, um sich so den Weg weiter zu bahnen. Draußen auf der Straße waren den amerikanischen Soldaten und denen von Südvietnam quasi die Hände gebunden. Trotzdem hatten die vietnamesischen Soldaten des Südens und die Verbündeten Saigon zurückerobert. Das hatte wochenlang gedauert.
Viele Orte in Saigon, auch das Chinatown in Chợ Lớn waren unbewohnbare Ruinen geworden. Zahlreiche Zivilisten sind auch durch die Invasion gestorben. Später konnte man im Fernsehen sehen, dass überall in den Straßen Leichen von Zivilisten und von den Soldaten beider Seiten lagen. Als das US- und südvietnamesische Unterstützungskommando bei der US-Botschaft ankam, haben sie die Botschaftsmitarbeiter und das Wachpersonal tot vorgefunden. Das Botschaftsgebäude war komplett verwüstet.

Bei der Zurückeroberung Saigons wurde der General Nguyển Ngọc Loan, Chef der Polizei von Südvietnam, von den ausländischen Kriegsfotografen dabei erwischt, wie er Nguyển Văn Lém, einen Việt Cộng-Spionageoffizier der Front der Befreiung Südvietnams, auf der Straße hingerichtet hatte. Dieses Foto ging um die ganze Welt und verursachte große Empörung. Vor Fernsehkameras aber erzählten viele Augenzeugen, darunter auch Kriegsgefangene, die auf die Seite des wohlhabenden Südvietnam gewechselt hatten, dass die Kriegsgegner nichts anderes getan hätten. Die Medien in Saigon berichteten später, dass die Frauen und Kinder der Offiziere der Armee von Südvietnam auch sofort hingerichtet wurden, egal ob sie aussagten, wo ihre Männer sich gerade befanden oder nicht. Lebend würden die meisten Kinder dem Weg ihrer Eltern folgen und von der Regierung gefördert, das wollte der kommunistische Feind verhindern.
In Südvietnam gab es damals Sonderschulen für die Kinder der Offiziere, besonders wurden Kinder betreut, deren Väter hohe Offiziere waren, die sich für das Land geopfert hatten. Diese Kinder sollten nach ihrem und dem Willen der Eltern ausgebildet werden, damit sie später selbst Offiziere werden konnten. Eine solche Schule sah ich immer, wenn ich auf dem Weg zum Zentrum von Vủng Tàu, der Stadt am Meer, war: "Trường Thiếu Sinh Quân Vủng Tàu / Schule für Jugendliche der Armeeeinheit Vủng Tàu."
Der Fall des General Nguyển Ngọc Loan war eine Einzelfall, weil er in dem Moment wütend darauf war, dass der Spionageoffizier Nguyển Văn Lém die Frauen und die Kinder seiner Freunde und Kameraden sofort vor Ort getötet hatte. In Wirklichkeit behandelten die Soldaten von Südvietnam und deren Verbündete die Gefangenen humaner als umgekehrt. Sie gaben ihnen Essen, Wasser und sogar Zigaretten. Das ist auch in vielen Filmausschnitten dokumentiert. Die Ausstrahlung dieser Filme ist im kommunistischen Vietnam bis heute streng verboten.

Viele Kriegsfotografen wissen ganz genau, das die vietnamesischen Kommunisten selber Meister der Propaganda sind. In einem umgekehrten Fall wie dem des General Nguyển Ngọc Loan würde die Việt Cộng oder die nordvietnamesische kommunistische Armee den Film verlangen oder "aus Versehen" den Kriegsfotografen erschießen. Unfall! Deshalb würden Kriegsfotografen, so glauben viele, in so einem Fall, der manchen Machthabern nachteilig ausgelegt würde, aus Angst umgebracht zu werden nie fotografieren. Kriegsfotografen wollen mit ihren Fotos –je grausamer desto besser- berühmt werden, Karriere und Geld machen, dabei aber nicht ihr eigenes Leben riskieren.

Krieg ist für mich teuflisch! Noch schlimmer war, dass ich in den Krieg eingezogen werden sollte! Mit Krieg können "manche" reich werden!

Die Medien von Südvietnam berichteten nach der Invasion damals, dass in Huế, wie in vielen anderen Städten Südvietnams, die meisten hohen Offiziere und Beamte über das Neujahrsfest zuhause waren. Als die Armee der Volksrepublik des sozialistischen Nordvietnam und die Front der Befreiung Südvietnams überraschend in die Stadt eindrangen, haben sie bereits gewusst, wer wo wohnte. Sie begaben sich direkt dort hin und alle wurden hingerichtet, auch deren Kinder und Frauen. Huế war danach wie eine kopflose Stadt, die Kommunisten hatten die Stadt "im Handumdrehen" erobert. Bis die Hilfstruppen von Außen kamen, wurden auch tausende Zivilisten, sowie viele Religionsführer und zahlreiche Beamte massakriert oder lebendig begraben. Woher wusste der Feind von Südvietnam, welche Menschen gegen sie sind? Später hatte man herausgefunden, dass die konservative Stadt Huế, wie überall in Südvietnam, von den Spionen des kommunistischen Nordvietnam ausspioniert wurde. Aber in Huế arbeiteten sogar buddhistische Mönche schon lange für den Geheimdienst des sozialistischen Nordvietnam, zu ihrem Vorteil, falls Südvietnam verlieren würde. Einige Mönche haben später ausgesagt, dass sie zum Spionieren gezwungen wurden.

Die Armee der Volksrepublik des sozialistischen Nordvietnam und die Front der Befreiung Südvietnams benutzten beim letzten Kampf den Königspalast als sicheren Rückzugsort. Die Armee von Südvietnam hatten den Befehl von oben: um jeden Preis muss Huế zurückerobert werden. Der königliche Palast war danach größtenteils eine Ruine!

Nach dieser Invasion sind die Kontrollen in Südvietnam strenger geworden. Hausdurchsuchungen und Kontrollen auf der Straße passierten öfter. Wer keinen gültigen Personalausweis mit Fingerabdruck und Wahlbescheinigung hatte, wurde von der Polizei abtransportiert. Alle männlichen Personen, die schon achtzehn Jahre alt waren, wurden sofort zur Einheit für neue Soldaten gebracht. Ich war neunzehn, hatte aber eine Bescheinigung, die einen verzögerten Einzug bis August 1969 ermöglichte. Diese Bescheinigung galt für Studierende und Personen, die eine wichtige Position in Kultur und Wirtschaft innehatten.


Der Künstlername 青濂 (Qing Lian / türkis-grün-blauer klarer Wasserfall)

Nach der großen Invasion 1968 durch die Kommunisten Nordvietnams und den Việt Cộng war das Leben der Menschen in den großen Städten Südvietnams auch nicht mehr so sicher wie vorher. Die Meinung "Es wird in der großen Stadt schon nichts passieren, besonders in der Hauptstadt Saigon", war aus den Gedanken der Menschen verschwunden und die meisten Menschen hatten kaum Zeit sich mit dem Thema Krieg zu beschäftigen! Es blieben Ihnen nur noch die Sorgen, die Sorgen des alltäglichen Lebens, wie es weiter gehen soll, besonders bei den Menschen, die wenig Ersparnisse hatten.

Trotz aller Möglichkeiten (moderne Waffen, Bombardement Nordvietnams, Vernichtung des Waldes, in dem sich die Việt Cộng versteckt hielten) haben Amerika und Südvietnam das kommunistische Nordvietnam und die Việt Cộng im Süden nicht besiegt. Nach und nach flüchteten die Menschen aus dem Kampfgebiet der umgebenden Dörfer und kleinen Städte in die große Stadt.
In Saigon, wo wir lebten, wurden einige Plätze und Parks in Wohnorte verwandelt. Die Wiese am Fluss über die Straße vor unserem Haus wurde auch mit Häusern dicht bebaut, von den Menschen die nach Saigon geflüchtet waren. Die einzige Möglichkeit das andere Ufer des Flusses zu sehen, war nur von unserem Hobbybauernhof, der auf der Wiese am Fluss stand.
In der Nacht schossen von irgendwo die Raketen der Kommunisten in die Städte herein, insbesondere nach Saigon, und dorthin wo die USA Soldaten stationiert hatten, wie immer. Aber die Menschen reagierten wie schon daran gewöhnt und zeigten keine Emotionen mehr: "Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich!" oder "Wenn ich morgens nicht mehr aufstehe, dann bin ich schon tot!"

Die große Stadt war auch der Erholungsort für die US-Soldaten, die von der Front zurückkehrten. Wegen der Lebensnot der Vietnamesen und den Bedürfnissen der US-Soldaten gab es fast überall Prostitution. Die Bars wuchsen wie Pilze aus der Erde. Viele Mädchen und Ehefrauen arbeiteten als Bargirl und sollten nur Getränke servieren und die Gäste unterhalten und . . . . . wurden dann doch auch wegen Geld zu sexuellen Handlungen genötigt. Viele Familienglücke wurden zerstört, die Moral war am Boden. Viele Bargirls verließen den Ehemann und die Kinder damit sie mit den GIs zusammen leben konnten. Der Grund war ein bequemes Leben und das Hoffen auf ein besseres zukünftiges Leben in den USA mit dem "weißen" oder "schwarzen" Mann, wenn der wieder zurück in seine Heimat konnte. So eine war auch die Ehefrau des Onkels meines vietnamesischen Kunstkollegen. Die Amerikaner kamen als Freunde und wurden später von den meisten Vietnamesen gehasst. Aber als der amerikanische Mann in seine Heimat zurückging, weigerte er sich die vietnamesische Frau und sogar seine leiblichen Kinder mitzunehmen. Die zurückgelassene Frau und die Kinder wurden diskriminiert und bespuckt wo man sie auch immer gesehen hatte. Viele solcher Kinder lebten nur auf der Straße, bei den Großeltern oder im Waisenheim, weil die Mütter nicht mehr für sie sorgen wollten oder konnten.

Überall hörte man von Korruption und Bestechung und viele machten mit! Es war lebensnotwendig für die kleinen Beamten, sonst müssten sie ihr Leben einschränken. Auch die großen Beamten waren bestechlich, obwohl sie mehr als genug zum Leben hatten.

Überall wo ich hinging begegnete ich immer freundlichen Gesichtern, aber dahinter verbargen sich oft Seelen in Trauer und Sorge. Besonders bei den Frauen, deren Männer zum Kriegsdienst eingezogen wurden, und die die Sorge für die Kinder und ältere Generation auf ihrer Schulter tragen mussten. Außerdem bei den Familien, die sich sorgten, dass irgendwann die Söhne nicht mehr von der Front zurückkehrten. Alle hatten Sorgen . . . . . alle hatten einen Grund sich zu sorgen! Meine Familie und ich auch.

Wo ist die friedliche Welt, die Harmonie, die glücklichen Menschen, die zufrieden im Gleichgewicht mit der Natur leben?

Bevor der Krieg alles zerstörte, ging ich so oft wie möglich in die Natur, also auf die Berge und zum Meer. Orte, die noch vom Krieg verschont waren.

An einem heißen Tag wollte ich aus der stressigen Stadt raus und ging links entlang des Flusses vor unserem Haus bis zu der Kreuzung am großen Fluß . . . . . . dann entschied ich mich, den großen Fluss zu überqueren, obwohl ich in der Gegend auf der anderen Seite des großen Flusses selten war – wenn, dann nur in der Nähe der großen Brücke. Wie für die meisten Stadtbewohner war auch für mich die Gegend sehr fremd. Nachdem ich über die große Brücke auf die andere Seite gekommen war, nahm ich ein kleinen öffentlichen Bus und fuhr ca. eine halbe Stunde bis zur Endstation.
An der Endstation endete auch die Straße an einem Gehweg, links und rechts des Gehweges waren Häuser mit großen Vorgärten. Die Gartenzäune waren meist aus dicht gepflanzten Kakteen. In jedem Garten war ein "Altar des Himmels" zu sehen. In der Stadt befanden sich diese Altäre üblicherweise an den Hauswänden, hier im Dorf sah ich die Altäre auf Säulen stehen. Vor diesen Altären hatten die Bauern die Gelegenheit für ihre üblichen Wünsche zu beten, aber ich glaube, an erster Stelle beteten sie für eine gute Ernte.
Viele Arten von Blumen waren in den Gärten zu bewundern. Von Haus zu Haus gehend fotografierte ich die schönen Blumen und Pflanzen unverzüglich. Irgendwann waren auf der linken Seite des Weges keine Häuser mehr, sondern Reisfelder, die weit . . . . . weit bis zum Horizont reichten.
Die Menschen, denen ich auf dem Gehweg begegnete, begrüßten mich freundlich. Ein alter Mann wollte mir behilflich sein und sprach mich an mit "Cậu". Er fragte mich, ob ich jemanden in der Gegend suchte, weil an vielen Häusern in der Gegend kein Hausnummernschild zu sehen war und die Menschen im Ort sich gegenseitig kennen. Wahrscheinlich merkte er, dass ich nicht aus der Gegend war, vielleicht weil ich so angezogen war wie ein Stadtmensch. "Cậu" hat in der vietnamesischen Sprache mehrere Bedeutungen: Damit ruft man zum Beispiel den "Onkel (Bruder der Mutter)", einen "Studenten", einen "jungen Herrn (Sohn einer vornehmen Familie)" oder ein Diener ruft so den Sohn des Hauses. Einige Hausbesitzer begrüßten mich nicht nur, sondern kamen zum Gartentor als ich ihre Blumen über den Zaun fotografierte. "Kommt herein, die sind auch sehr schön, die können sie auch fotografieren!" . . . . . . . . "Diese blüht erst in diesem Jahr." Die Natur hatte so eine Ausstrahlung, dass ich sehr angetan war und ein unbeschreibliches Gefühl hatte "Sehr schön, wirklich sehr schön."

Die Menschen hier lebten in einem gelassenen Rhythmus, als ob sie vom Krieg noch nichts gehört hätten. An diesem Ort hatte ich bislang nur alte Männer, Jugendliche, Frauen und Kinder gesehen. Wo sind die Männer? Sie sind bestimmt auch im Militärdienst. Die Menschen hier mussten sich auch mit dem Krieg beschäftigen, obwohl es nicht so zu sein schien, denke ich.

Weitergehen, dann endete der Weg vor einem Fluss. Am Ufer waren verschiedene Arten von Bäumen, die Schatten spendeten. Links, an der Seite mit den offenen Reisfeldern konnte man auch auf der Feldbegrenzung entlang des Ufers gehen, aber dort war es schmal, glatt und nass durch das Wasser des Reisfeldes. Ich ging nach rechts, wo der Weg noch breiter war und Häuser bis zum Horizont zu sehen waren. In einem Abstand von ein paar hundert Metern befanden sich "Cầu khỉ / Affenbrücken", schmale Brücken, die aus einer langen Bambusstange oder Holzbrettern bestanden, damit man den Fluss überqueren kann. An der anderen Seite des Ufers waren auch nah am Wasser Häuser von Bauern, bei denen Fischfangzäune zu sehen waren. Rundherum schwammen die Enten frei herum, tauchten ab und zu den Kopf kurz ins Wasser um Nahrung zu suchen. Es war heiß und still. In dieser Zeit sah man fast keinen Menschen auf dem Weg, aber man konnte die lachenden Stimmen der Kinder von der anderen Seite des Flusses hören, die gerade im Wasser schwammen und spielten.
Ich suchte einen Baum und setzte mich in seinen Schatten. Nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken hatte, fing ich an dieses friedliche, harmonische Idyll mit Bleistift zu skizzieren, um später im Atelier alles in chinesischer Tuschemalerei umsetzen zu können (siehe auch "Frühe Arbeiten"). Nach einer Weile, in der ich konzentriert malte, merkte ich, dass ein paar Kinder hinter mir standen und neugierig schauten, was ich malte. Ein alter Bauer war auch dabei "Cậu / Junger Herr, sie sind ein Künstler! Sie kommen bestimmt aus der Stadt." "Ja, drüben, über die große Brücke." Nachdem er meine Zeichnung sah: "Das sieht aus wie das Haus meiner Tochter, sie wohnt da drüben . . . . . ." In diesem Moment rief seine Frau vom Vorgartenzaun aus "Lad den jungen Herrn mal zu uns ein, es ist zu heiß draußen, im Haus kann man sich besser unterhalten."

Wir gingen in sein Haus, im Vorgarten waren auch viele Blumenarten zu sehen, eine Besonderheit bei ihm waren die "Hoa Mào Gà", in chinesisch "Gi Guan Hua/Hahnen-Kronen-Blüte" auf deutsch Hahnenkamm (Celosia argentea cristata), die in verschiedenen Farben gelb, orange, rot und pink zu sehen waren (siehe auch Dokumentation/ Reise/ 2000/ Griechenland). Ich war begeistert von der samtigen Ausstrahlung der Blumen, holte sofort den Fotoapparat aus der Tasche und fotografierte. Die Besitzer waren auch stolz, dass ihre Blumen auf mich so eine Anziehungskraft hatten. "Junger Herr, fotografiert ruhig weiter, ich pflücke ein paar Limonen und mache für uns ein Getränk", sagte die Ehefrau.
Bevor wir ins Haus gingen, zeigte der Bauer mir den Garten hinter dem Haus. Ein Garten mit Obstbäumen wie ein paar Kokosbäumen, einigen Bananen- und Limonenbäumen und ich sah noch weitere wie "Ổi" (Psidium guajava), "Mận" (Javaapfel), Papaya- und Mango-Bäume. Außerdem Gemüse, Kräuter . . . . . . Hinter dem Garten waren auch Reisfelder zu sehen. Hühner und Hähne sammelten sich im Schatten der Bäume, die Enten schienen im Wasser ihr glückliches Leben bei heißem Wetter zu genießen. . . . . . Wir gingen ins Haus, dann sagte ich "Das Leben hier scheint sorglos zu sein!" "Nicht so wie ihr denkt, junger Herr." Während wir uns unterhielten, brachte die Ehefrau uns aus der Küche das Getränk mit den Limonen aus dem Garten . . . . .

Nach der Erfrischung erzählte mir der Bauer weiter: "Mein zweiter Sohn ist im Krieg gefallen, der ältere ist noch an der Front. Ich und meine Frau leben jetzt mit dem jüngsten Sohn und der jungen Tochter zusammen." "Meine ältere Tochter ist schon verheiratet, sie lebt zurzeit mit ihren Schwiegereltern und der Schwägerin zusammen, da drüben über den Fluss, ihr Mann ist auch im Armeedienst", erzählte die Ehefrau. Der Bauer: "Wir leben von Tag zu Tag und versuchen das beste daraus zu machen. Im Moment ist keine Erntezeit und wir haben wenig zu tun. Gut, dass hier in der Nähe eine kleine Fabrik ist, in der Kokosöl produziert wird, dadurch können manche Leute ihr Leben verbessern. Meine beiden Töchter arbeiten auch dort, wie die meisten Leute hier, außer in der Erntezeit. Bei der Ernte müssen dann alle zuhause mithelfen."
Nach einer kurzen Pause erzählt der Bauer weiter: "Mit der Reisernte haben wir in den meisten Jahren genug zu leben, außerdem haben wir wie die anderen Bauern hier noch eigenes Gemüse, Kräuter und den Obstgarten, das ist nur genug für uns. Die Hühner- und Enteneier können wir auf dem Markt verkaufen . . . . . . . Wir haben gehört, dass in die Stadt viele Menschen von anderswo geflüchtet sind?" "Ja, die Stadt ist voller Menschen, die aus dem Kriegsgebiet geflüchtet sind. Von Erzählungen hört man, dass Ihre Obstplantagen und Reisfelder von beiden Seiten bei Gefechten zerstört wurden, auch viele ihrer Häuser wurden versehentlich von Raketen der Amerikaner getroffen, ein falsches Ziel. Manche waren froh, dass sie noch am Leben waren!" "In diesem Gebiet ist bis jetzt noch nichts passiert, hier wurden wir vom Krieg veschont, aber man weiß nicht, was in der kommenden Zeit noch passieren kann", sagte er, und seine Frau: "Bei der Invasion im Jahr des Affen (1968) sind die Kommunisten an diesem Ort vorbeimarschiert, drüben am Fluss . . . . . . wir hatten solche Angst . . . . . . . Gut, dass 'ông bà tổ tiên / Die Ahnen uns geschützt haben' . . . . sonst . . . . . ."

Plötzlich rief ein Nachbar vor dem Zaun "Großer Bruder Năm, große Schwester Năm, seid ihr zu Hause?" (Wie bei Chinesen haben "Großer Bruder" und "Große Schwester" nicht immer mit Verwandschaft zu tun, sondern werden aus Höflichkeit wie mit Onkel und Tante verwendet). "Wir sind im Haus, kommt herein", antwortete mein Gastgeber. Dann "Wir haben Besuch aus der Stadt . . . Nehmt Platz, nehmt Platz. . . ." "Danke! Ich bleibe nur kurz, ich wollte nur fragen, ob ihr noch Lemongras im Garten habt und wir ein Paar Zehen ausleihen können?" "Was für ein Frage, natürlich." Dann ging die Ehefrau nach hinten in den Garten. "Meine sind aufgebraucht, die neu gepflanzten sind noch so jung . . . . . . . Junger Herr, man erzählt sich, dass in die Stadt viele Menschen aus den Kriegsgebieten hinzugekommen sind, nicht wahr?" "Ja, der junge Herr hat uns gerade davon erzählt." Der Nachbar: "Diese Ernte sollten wir auch zusammenarbeiten, die Ernte in Sicherheit bringen." Mit einem ärgerlichen Tonfall spricht der Nachbar weiter: "In manchen Gebieten der Mitte wurden schon wieder Reisfelder von den Việt Cộng geerntet und es ist nicht einmal ein wenig für die Bauern übrig geblieben. Wie immer haben die Việt Cộng überall Zettel hinterlassen wie: 'Vielen Dank, dass das Volk die Revolution zur Befreiung Südvietnams unterstützt'. Obwohl die Bauern überhaupt keine Symphatie mit denen haben . . . . ." In dem Moment kam die Gastgeberin mit einer handvoll Lemongras: "Ist das genug?" "Ja, ja, es ist genug." "Bleibt doch ein wenig bei uns." "Danke, nächstes Mal." Dann ging der Nachbar.
"Wie kann so etwas passieren?" fragte ich. "Die Việt Cộng kommen immer in der dunklen Nacht. Natürlich haben die Bauern das gewusst, aber sie können sich nicht dagegen wehren. Oft können sie die Einheit der Soldaten von Südvietnam nicht informieren, weil der Weg so weit ist, und wenn sie von den Việt Cộng gefasst würden, dann würde das ganze Dorf als Verräter verurteilt! Manche Einheiten der Soldaten von Südvietnam sind nicht groß genug, um die Gebiete zu kontrollieren. Die meisten sind an der Front. Mit den Zetteln, die von den Việt Cộng überall hinterlassen wurden, sollte mit Absicht missverständlich das Vertrauen zwischen den Bauern und der Regierung von Südvietnam zerstört werden, das führte auch dazu, dass die amerikanische Armee dieses Gebiet bombardierte."

Nach einer Pause erzählte der Gastgeber weiter: "Viele Orte wurden am Tag von der Regierung Südvietnams kontrolliert, in der Nacht kommen die Việt Cộng und verlangen Unterstützungssteuer. Oft nehmen die Việt Cộng das Volk als Schutzschild bei Gefechten. Das Volk ist wie ein Fisch auf dem Schneidplatz und zugleich unter dem Messer." Ich war wortlos. Der Bauer Năm sagte weiter: "Den Krieg hätten wir schon lange gewonnen, wenn es keine Korruption geben würde. Unsere Soldaten opfern ihr Leben an der Front, im Hinterland stopfen sich viele Regierungsmitglieder und höhere Beamte Geld in ihre Taschen, so voll wie möglich! Niemand kümmert sich um das elende Leben der Familien der Soldaten!" "Onkel Năm, sie haben recht, viele Spendengüter der Alliierten sehe ich auf einigen Märkten in Saigon." "Die Amerikaner haben behauptet, das der Krieg nur ein paar Jahre dauern würde! . . .Ja, Ja . . . bis jetzt wurden zuviele wehrlose Zivilisten getötet . . . . . . . Aber wir Bauern stehen nicht an der Seite der Kommunisten, 100% nicht. Die "Cải cách ruộng đất / Agrarreform" in Nordvietnam von 1953-1956 haben wir mitbekommen und werden nie vergessen . . . . . . Es ist gleich, wer an der Macht ist, die untere Schicht des Volkes trägt immer die Last."
Es blieb eine kurze Zeit still und ich wollte mich verabschieden, da brachte Bauer Năm’s Ehefrau eine Papaya aus dem Garten: "Sie ist gerade reif, wir laden den jungen Herrn ein." "Ja, die Früchte, die direkt vom Baum kommen, schmecken am besten." Es war ein Genuss und schmeckte viel besser als vom Markt. Beim Abschied: "Kommen Sie uns besuchen, wenn es möglich ist." Dann brachte der Sohn mich mit seinem Fahrrad bis zur Haltestelle des kleinen Busses.

In diese Gegend bin ich dann öfter gefahren, wenn ich nicht weit entferntere Ziele am Meer hatte, wie z.B. Vủng Tàu, Đà Nẵng, Nha Trang oder in den Bergen Đà Lạt. Die Landschaft der Gegend war für mich auch gut für Naturstudien geeignet. Für meine Skizzen von Blumen, Pflanzen, Obst und Bäumen besuchte ich die Familie des Bauern Năm und bekam von ihm, da er gerne sein Wissen teilte und erzählte, auch Erklärungen über Wachstum, Blütezeit, Befruchtungszeit und Reifezeit. Das war mir später bei Blumen- und Pflanzenmotiven sehr nützlich. Bei seiner älteren Tochter, die gegenüber des Flusses lebte, hatte er mir auch den Lotusteich gezeigt, Lotus - eine meiner Lieblingsblumen.
Jedes Mal, wenn ich die Familie besuchte, wurde ich zum Obst, das in der Saison gerade reif war, eingeladen. Die waren unbeschreiblich duftend und schmeckten! Sie gaben mir auch schonmal einige Teile Obst zum mitnehmen. Ich brachte bei meinen Besuchen auch kleine Geschenke aus der Stadt mit, worüber sie sich freuten. Als Geschenk hatten sie besonders ein chinesisches Teeset aus feinem Porzellan und Fotos von Mitgliedern seiner Familie, die ich fotografiert hatte, sehr glücklich gemacht.

Bevor ich mich einige Jahre später für den Armeedienst meldete, hatte ich die Gegend noch einmal besucht, auch die Familie des Bauern Năm. Als ich ihm vom Armeedienst erzählte, war er von mir beeindruckt und hatte zugleich Respekt, dass ich als Chinese zur vietnamesischen Armee ging. Beim Abschied an der kleinen Bushaltestelle sagten Tante und Onkel Năm: "Wir beten zu den Ahnen, dass der Krieg bald zuende ist, und der junge Herr und mein Sohn gesund nach Hause kommen." . . . . . . "Ja! Das bete ich auch und wir sehen uns wieder!" Obwohl ich ein schreckliches Gefühl hatte, dass wir uns nicht mehr wiedersehen . . . . . . "Dann, Tante Năm, Onkel Năm . . . . . alles Gute!" Er nahm meine Hand und drückte sie fest zum Abschied . . . . . . . . . . . . Das war das letzte Mal, dass ich dort in der Gegend war.

Nach vielen Reisen zu verschiedenen Orten und Begegnungen mit vielen Menschen bekam ich die Gedanken: Wo ist die friedliche Welt, die Harmonie, die glücklichen Menschen, die zufrieden und sorglos im Gleichgewicht mit der Natur leben können! Ich glaube, diese Welt existiert nur in meiner Wunschvorstellung, tatsächlich gibt es sie nirgendwo. Es ist eine Sehnsucht, eine Sehnsucht in mir. In diesen tiefen Gedanken . . . . . . . dann . . . . . . . .plötzlich schien ein Licht in mir und erzeugte eine Stimme wie meine eigene: "Die von Dir ersehnte Welt kannst du verwirklichen mit deinem Können. Das Können, das dir von der Naturschöpfung mitgegeben wurde . . . . Das ist deine wirkliche Welt." Ich war wie aus einem Traum erwacht.

Ein abgeschiedenes Leben im Gleichgewicht mit der Natur in einer Welt mit türkis-grün-blauen Farben von Meer, Bergen und Himmel. Wo der Wind die Bäume "streichelt" oder im Gleichklang mit ihnen "spielt". Wo die Berge das Wasser an sich herablaufen lassen, damit eins meiner fünf Lieblingselemente, das Wasser, sich in verschiedene Formen, wie einen Teich, einen See oder einen Fluss verwandelt . . . . . . . Wo es friedliches Leben gibt, wie das ruhige fließende Wasser des Flusses. Wo der Klang des Quellwassers im Bach noch wie eine chinesische Zither klingt. Abgeschirmt von Krieg, Macht, Gier . . . . und . . . . .und . . . . . und das ist die Welt meiner Sehnsucht, das halte ich auf Papier fest. In der Zeit, in der ich damit beschäftigt bin, ist mein Geist von der schrecklichen Welt entfernt, weit, weit entfernt. Mit dieser Sehnsucht und der Verwirklichung ist auch mein Künstlername entstanden: 青濂 (Qing Lian/türkis-grün-blauer klarer Wasserfall).

Zum Ende des Jahres 1963 fing ich bei Professor Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing) an chinesische Tuschemalerei zu studieren. Es dauerte nicht lange, dann war ich in seinem Künstlerkreis anerkannt und angeschlossen. Natürlich förderten sie mich als jüngere Generation der Zukunft, nachdem sie früh in mir meine Leidenschaft für die Kunst sahen. In der Zeit gab es nicht wenige Jungen, die das Studium abbrachen, weil sie keine Lust mehr hatten oder wegen der alltäglichen Lebensnotwendigkeit. Manche Jungen wurden auch von wohlhabenden Familien hingeschickt Kunst zu lernen, obwohl sie kein Interesse daran hatten. Es ging in der Zeit um den Trend, berühmt sein zu wollen, und vielleicht viel Geld damit zu machen. Im Gegensatz dazu habe ich einen Freund dem Lehrmeister vermittelt, weil er auch gerne die chinesische Kunst studieren wollte, mit Einverständnis seiner Mutter. Nach ein paar Monaten hat sein Vater davon erfahren und der Freund musste das Studium aufgeben, obwohl es eine wohlhabende Familie war. Sein Vater meinte: "Du sollst was vernünftiges für das Leben lernen."

In dem chinesischen Künstlerkreis um Professor Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing) war auch 张达文 (Zhang Da Wen), zu dem ich oft Kontakt hatte und der mein Talent unterstützte, obwohl ich nicht bei ihm studierte. Er war ein Hauptorganisator für viele chinesische Kunst-Ausstellungen, deren Erlöse für die Gründung chinesischer Schulen in der Provinz Südvietnam genutzt wurden und zur Finanzierung einiger chinesischer Krankenhäuser in Saigon. Natürlich war auch Meister 陈宾杨 (Chen Bin Yang) in dem Kreis. Die drei waren mit die Bekanntesten in der chinesischen traditionellen literarischen Malereiszene in Saigon. Der Künstler 何嫩熊 (He Nen Xiong) aus der älteren Generation war nicht in diesem Kreis, aber auch in diesem künstlerischen Gebiet bekannt. Weitere in diesem Künstlerkreis waren auch der Kalligraphiekünstler 子屯 (Zi Thun), der mich durch seine Ausgeglichenheit beeindruckte, und einige andere.

Es war eine sehr schöne Zeit, in der ich sehr mit der chinesischen Kunst beschäftigt war, und in der viele neue künstlerische Ideen entstanden sind und ich mein Können zeigen konnte. Zusammen mit dem erwähnten Künstlerkreis, in dem alle Künstler waren, die eine Generation älter waren als ich, besuchten wir oft Kunstausstellungen, machten Künstlerbesuche und gingen gemeinsam Essen. Bei jeder Einladung dieses bekannten Künstlerkreises zu außergewöhnlichen Gelegenheiten war ich sehr glücklich, dass ich dabei sein konnte. Und dabei habe ich trotz meines jungen Alters schon viel Erfahrung sammeln können, wie das Leben der verschiedenen Schichten der Gesellschaft aussieht. Außer den Personen des Künstlerkreises, der Meistergeneration, traf ich auch ein Mal in zwei Monaten Studenten, die bei Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing) und Meister 张达文 (Zhang Da Wen) studierten und wir unternahmen alles mögliche wie Kochen, Ausflüge, chinesische Neujahrstreffen, usw . . . . . Dass wir uns damit beschäftigen konnten, verdanken wir natürlich unseren Eltern, die uns das ermöglichten. Bei solchen Treffen können wir eine Zeit lang die unruhige, schreckliche, sorgenvolle Welt von draußen, die vom Krieg verursacht wurde, vergessen.
Bei mir besonders bei der Beschäftigung mit der Malerei, der Erschaffung meiner Wunschvorstellungswelt. Natürlich war das auch eine Art von Verdrängung. Nach 1979, als ich in Europa lebte, hatte ich doch das Bedürfnis die innere Belastung des Krieges abzubauen, weil die schrecklichen Erlebnisse, die vom Krieg verursacht wurden, insbesondere während meines Armeedienstes, mich immer in meinen Erinnerungen verfolgte. Diese Erinnerungen habe ich wiederum mit meiner Malerei abbauen können. Vielleicht kann ich irgendwann zu einer passenden Gelegenheit diese Bilder auch zeigen, um damit den Menschen eine mahnende Erinnerung zu geben.

Irgendwann sagte der Meister 张达文 (Zhang Da Wen) zu mir, dass ich einen Künstlernamen für mich haben sollte, auch Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing) meinte, dass ein Künstlername und mein Malstil, Inhalt und Ausdruck meiner Bilder im Gleichklang sein sollten. Ich hatte mir in Wirklichkeit bis dahin wenige Gedanken darüber gemacht. Bis zum Tag an dem ich mich für 青濂 (Qing Lian/türkis-grün-blauer klarer Wasserfall) als Künstlernamen entschied, hatte es lange gedauert. Weil mein Geburtsname 陳英義 (Chen Ying Yi) viel Verbindung mit vielen außergewöhlichen Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit hatte, die noch heute in mir sehr lebendig ist, hatte ich noch eine lange Zeit mit meinen Geburtsnamen 陳英義 (Chen Ying Yi) meine Bilder signiert. Dann kam eine Zeit, in der ich auch abwechselnd sowohl Geburtsnamen als auch Künstlername nutzte und irgendwann dann endgültig nur noch den Künstlernamen 青濂 (Qing Lian/türkis-grün-blauer klarer Wasserfall). Der Abschied von der Vergangenheit ist schwer, besonders wenn man viele schöne Erinnerungen hat!

Nach und nach hatte ich meine eigenen Gedanken in kurze Texte für meine Kunstsiegel gestaltet, um den Ausdruck meiner Bilder zu verstärken, wie z.B.: 自有所思 (Innere Gedanken), 心之所安 (Zufriedenheit des Herzens), 闲乐 (Freizeitglück), usw. Nach dem Jahr 1975 als Südvietnam kommunistisch geworden war, enstand eins meiner beliebtesten Siegel: 落赤心思(Gedanken im Rot). Der Text entstand, als ich mein neues Leben dem kommunistischen Regime anpassen musste. Die Farbe Rot hat für mich seitdem zwei Bedeutungen: Im traditionellen chinesischen Leben hat sie das Glück gekennzeichnet, andererseits ist sie für mich brutal und blutig. Ein Teil meiner Siegeltexte wurde von 陈章卿 (Chen Zhang Qing) für mich als Siegel geschnitten, da er nicht nur Meister der chinesischen Tusche-Malerei war, sondern auch Kunstsiegelschneider.

Der Künstlername 青濂 (Qing Lian/türkis-grün-blauer klarer Wasserfall) spricht sich genauso aus wie 清廉(Qing Lian/unbestechlich, Klarheit, Transparenz). Wegen dieser Charaktereigenschaften habe ich viele Personen der chinesischen Geschichte sehr verehrt, z.B.: 韩愈(Han Yu 768-824), 苏东坡 (Su Dong Po 1037-1101), die beiden waren höhere Beamte, gleichzeitig auch Literaten und Denker, 海瑞 (Hai Rui 1514-1587), ein höherer Beamter, ein ausgezeichneter Politiker, 郑板桥 (Zheng Ban Qiao 1693-1765), ein Beamter gleichzeitig auch ein berühmter Maler und Kalligraph. Diese Personen setzten ihr Leben nur zum Wohle des Volkes ein. Das Wort 濂(Lian/klarer Wasserfall) spricht sich genauso aus wie 莲(Lian/Lotus), eine meiner Lieblingsblumen (siehe Galerien / Spezialthemen /Lotus), eine Blume, die im Schlamm niedrigen Gewässers wächst und in der Luft aufblüht, ein Symbol für Reinheit und Unbeflecktheit.

Die beiden Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing) und Meister 张达文 (Zhang Da Wen) fanden meinen Künstlernamen sehr passend gewählt.


Die Wende

An einem heißen Juni-Tag, es war Wochenende: Ich wollte eigentlich Freunde besuchen, besondere Freunde, die ich seit ein paar Monaten nicht gesehen hatte. Aber es war so heiß, dass ich nicht vor die Tür gehen wollte. Neben einem Getränke-Wasserbehälter lagen zwei unserer Hunde mit offenem Maul und herausgestreckter Zunge. Sie hechelten in schnellem Tempo, obwohl sie schon kurz vorher unter der Dusche waren. Gegenüber unseres Hauses, über die Straße am Ufer in unserem Hobbybauernhof saßen die Hühner und Hähne eng im Schatten des Nachtkäfigs. Sie öffneten ebenfalls ihre Schnäbel und man konnte an ihrer Kehle erkennen, dass auch sie schnell atmeten. Die Enten hatten den Vorteil, dass sie im Wasser bleiben konnten. Unsere drei Katzen waren irgendwo im Haus in einer schattigen, kühlen Ecke.

Die Ventilatoren im Haus blieben stehen, denn bei dieser Hitze erzeugten sie nur heiße Luft. Es war auch zu heiß, um auf dem Sofa zu sitzen. Wir saßen auf Matten auf dem kühlen Boden, der aus 40x40 cm großen und 4 cm dicken Keramikfliesen bestand.

Zwei chinesische Nachbarinnen kamen zu uns, um bei meiner Mutter Gesellschaft zu suchen. Die beiden gehörten zur Oma-Generation und waren schon über siebzig. Eine kam von ein paar Straßen weiter, die andere wohnte hinter unserem Haus. Sie kamen uns regelmäßig besuchen und fühlten sich bei uns wohl, besonders an heißen Tagen. In ihren kleinen Häusern, in denen sie mit drei Generation zusammen wohnten, war es für sie unerträglich. Die Nachbarinnen erzählten ab und zu Geschichten über China, wo meine Eltern herkamen, und ich hörte sehr gern zu, besonders aber auch meine jüngeren Geschwister.

"Es ist so heiß, ich kann es nicht mehr aushalten", sagte eine der Nachbarinnen, als sie bei uns ankam. "In China hat es auch oft Dürren gegeben", erzählte die Ältere. Die andere Nachbarin: "Das war schlimm, das habe ich als Kind auch erlebt" "In der kleinen Stadt, wo ich als Kind war, gab es Mal eine Dürrezeit, die fast einen Monat dauerte. Ein Teil der Stadt-Bewohner forderte von den städtischen Behörden gegenüber dem 'Himmel/Gott' für Regen zu beten. Ein Tisch mit vielen Opfergaben wurde auf den Stadtplatz gestellt, viele Räucherstäbchen und Kerzen wurden von den Stadtbewohnern angezündet und mit allen Ritualen wurde gebittet und gebetet. . . . . ." Ich hatte das Gespräch unterbrochen: "Und, hat es daraufhin geregnet?" "Natürlich nicht!" antwortete die ältere Nachbarin und ergänzte: "Weil der Sohn des Stadt-Oberhauptes gerade Ferien von seinem Studium hatte und bei seinen Eltern zu Hause war." Ich fragte: "Und . . . . warum?" "Der Sohn meinte, das sei Abergauben. Damit hatte er die Bewohner und den 'Himmel/Gott' beleidigt." Ich hatte dann gelacht, bis mir fast die Tränen kamen! Die andere Nachbarin wurde von mir angesteckt und hatte auch köstlich gelacht, . . . . . . dann fragte sie nach meiner Schwester. "英婵 (Ying Chan) kocht gerade grüne Bohnensuppe in der Küche, 英梅 (Ying Mei) und 英芳 (Ying Fang) treffen sich mit ihren Studienfreunden und Schulkameraden zum schwimmen", anwortete meine Mutter. "Anders als früher, sind die Mädchen heute auch oft wie die Jungen unterwegs. Ich durfte damals nicht so oft aus dem Haus gehen. Wenn, dann nur mit Begleiter", erzählte die ältere Nachbarin. Die andere Nachbarin:" Das war damals bei vornehmen Familien so, bei uns war es nicht so streng."

Zu jeder heißen oder kalten Saison bereitete meine Mutter neben der Hauptmahlzeit immer passende Kleinigkeiten zum Abkühlen oder Aufwärmen für den Körper. Für die heißen Tage: Grüne chinesische Bohnen mit Seetang oder andere natürliche chinesische Zutaten, die auch in der TCM verwendet werden. Ein traditionelles Rezept. "Die grüne Suppe ist fertig." Meine Schwester brachte ein großes Tablett mit Schälchen der grünen Suppe aus der Küche und stellte es auf die Matte. Meine Mutter bat die beiden Nachbarinnen mit dem Essen anzufangen.
Ich nahm gerade meine Schale hoch, dann sah ich einen Schatten, der von der Terrassentür bis vor die Haustür fiel. Ich fragte mich, wer das war. Ich mußte mit der Hand die Augen abschirmen, um richtig sehen zu können, wegen des Gegenlichtes. "Diểm, komm mal rein", nachdem ich ihn gerufen hatte, stand ich auf, ging hinaus und öffnete die Terrassentür. "Komm herein." Die Hunde standen auch auf, wedelten mit dem Schwanz und wollten hoch zu ihm springen. "Nein", sagte ich. Diểm streichelte den Hunden den Kopf, die kannten sich schon. Meine Mutter: "Komm rein, setz Dich zu uns, es ist zu heiß draußen!" Meine Schwester bot ihm auch ein Schale von der grünen Suppe an.

Diểm, ein vietnamesischer Freund von mir, den ich schon seit mehr als drei Monaten nicht gesehen hatte, kam mit einer "Botschaft" von seinem Vater, dass es in der Kunstakademie eine Stelle als Dozent für "Tranh Thủy Mạc / Tusche-Malerei" gab. Die Stelle war noch frei, weil sie noch nicht veröffentlicht war. Sein Vater ließ fragen, ob ich die Stelle annehmen wollte und Diểm erklärte mir, dass man durch diese Stelle natürlich auch vom Einzug in den Militärdienst verschont blieb. Das Gehalt wäre nicht hoch, denn der Staat brauchte mehr Geld für die Landesverteidigung und die Wirtschaft, der Kulturetat war um die Hälfte gekürzt worden. Ich sagte nach kurzer Überlegung zu. Meine Mutter hatte sich gefreut und die beiden Nachbarinnen wünschten mir auch viel Glück.

Durch die Freude vergisst man vollkommen die Zeit und die Hitze. Es war schon fast Abend, ich verabschiedete mich von meiner Mutter, der Schwester und den Besuchern, dann ging ich mit Diểm aus.

Der Vater von Diểm war ein Beamter des Kultusministeriums und Diểm war vor kurzem als Assistent eines Kunst-Professors eingestellt worden. Diểm hatte westliche Kunst studiert: Ölmalerei. Es gab nur noch wenige vietnamesische Künstler, die sich mit Tuschemalerei beschäftigten und die sind auch schon sehr alt. Ich war fast sicher, dass ich die Stelle bekommen würde!

Am Vorstellungstag hatte ich mehr als eine Stunde mein Können in der Kunstakademie vorgeführt, obwohl man das nicht mehr von mir verlangte. Nachdem ich meine Bilder gezeigt hatte, hatte ich die Stelle schon bekommen und das Gespräch war nur noch gegenseitiges Kennenlernen.

Die vietnamesische, koreanische und japanische Tuschemalerei kam ursprünglich aus China : "水墨画(shui-mo hua) / Tuschemalerei", sie haben fast gleiche Maltechnik und Themen. Die Themen der Tuschemalerei sind meistens von der Philosophie und Ethik von Laotse, Buddha und Konfuzius beeinflusst. Seit der Antike haben Bilder von chinesischen großen Meistern immer schon Künstler aus den anderen Ländern inspiriert. Westliche Malerei wie Öl- und Aquarellmalerei wurden in der Koloniezeit von den Europäern nach Vietnam und Asien gebracht. In der Koloniezeit in Vietnam haben sich mehr und mehr junge Vietnamesen mit der westlichen Malerei beschäftigt. Es ging um den Markt, weil die Kolonialherrscher mit der Tuschemalerei meistens nicht viel anfangen konnten! Ebenso verhält es sich heute in China. Viele junge Chinesen studieren westliche Kunst, oft nicht aus Leidenschaft, sondern um sich dem Kunstmarkt in Europa und dem Westen anzupassen.


Im Dienst des Millitärs

Irgendwie hatte der Krieg mir meine Beschäftigung als Dozent in der Kunstakademie nicht gegönnt. Der Krieg war schlimmer geworden und verbreitete sich, nach einem Jahr erreichte er mich und hatte mich in seinen Teufelskreis gezwungen. Die Regierung von Südvietnam musste alle jungen Leute zum Militärdienst rufen, um das Land zu verteidigen nach dem Motto "Ohne Land gibt es keine Kultur, keine Wirtschaft, keine Familien, einfach nichts".
Ende des Jahres 1970 meldete ich mich laut Befehl beim Militär von Südvietnam und wählte die Marine. Die Kunstakademie hatte mir die Arbeitsstelle zugesichert, wenn der Krieg zu Ende wäre.

Nach einer kurzen Zeit der Arbeit in der Verwaltung der Einheit für neue Marine Soldaten in Saigon als Tabellen-Zeichner, kam ich in die militärische Grundausbildung. Danach wurde ich ausgesucht für die Marine-Ausbildung als Funker in die USA zu gehen, vorher sollte ich eine besondere englische Sprachausbildung in der amerikanischen Armee-Akademie in Saigon machen. In mir war Unsicherheit und Freude zugleich. Unsicherheit, weil die amerikanische Armeeeinheit das Hauptziel der Việt Cộng Raketen war. Freude, weil ich spät morgens für einen halben Tag in die Schule und am frühen Nachmittag zu meiner Familie nach Hause gehen konnte. Ich nutzte diese Gelegenheit, meine Leidenschaft für die Kunst weiter auszuleben.

Nach dem Abschluss der Sprachausbildung kam eine Überraschung! Die Marine-Soldaten mit chinesischer Abstammung sollten nicht mehr in den USA, sondern in Vietnam ausgebildet werden. Der Grund: Ein Teil von ihnen war vorher in den USA abgetaucht und war nicht zurück in das Kriegsland Vietnam gegangen. In Wirklichkeit taten das aber auch die vietnamesischen Marine-Soldaten, die dem Krieg in ihrer Heimat nicht mehr dienen wollten! Ich wäre gerne in die USA gegangen, um dem Krieg für eine Zeit zu entkommen und dann nach dem Abschluss der Ausbildung definitiv wieder nach Vietnam zurückzukehren, weil dort meine Familie war.

Für eine Ausbildung zum Sekretär musste ich als Unteroffizier nach Đà Nẵng in der Cam Ranh Bucht. Ein Beruf, der in der Marine nicht nur "tippen" bedeutete, sondern erwartete, dass man selbst formulierte und schrieb, Verwaltungsarbeit erledigte und das alles nach dem Wunsch des Befehlshabenden oder des Kapitäns.

Nach dem Ausbildungsabschluss wurde ich in der Redaktion der Marinezeitschrift "Lướt Sóng/ Wellenreisen" eingesetzt. Von der Abteilung für psychologische Kriegsführung in das Marine-Haupquartier in Saigon als Designer für Zeitschriftenseiten mit Schrift und Bild. Wie wenige andere auch hatte ich das Glück, dass meine Familie in Saigon lebte. So konnte ich jeden Tag am frühen Abend nach Hause gehen und musste nicht im Hauptquartier übernachten, es sei denn es gab eine Ausgangssperre oder Wachdienst. In diesen zwei Jahren hatte ich auch Ausstellungsbeteiligungen, diese sogar mitorganisiert und hatte trotz des Armeedienstes ein wenig Zufriedenheit und Wohlgefühl.

Im Jahr 1973 kam es in Paris zu einem Abkommen zwischen den USA, Republik Vietnam (Südvietnam) mit der Republik des sozialistischen Nordvietnam und der Front der Befreiung Südvietnams (Việt Cộng) für den Frieden in Vietnam und den Rückzug der amerikanischen Soldaten in ihre Heimat. Das Abkommen wurde hauptsächlich getroffen, damit die USA den Krieg nicht verloren hätten (so wie die Franzosen früher) und ihr Gesicht wahren konnten. Außerdem herrschte in den USA eine Anti-Kriegsstimmung, der Krieg hatte viele Amerikaner das Leben gekostet, brachte nicht die erwünschten Vorteile und war kaum noch finanzierbar. Der Vietnam-Krieg war für die USA schon lange wie eine glühende heiße Kartoffel in der Hand. Die Kommunisten in Vietnam brachen das Abkommen sofort und mehrmals, statt Frieden mit dem Süden zu schließen! Südvietnam brauchte mehr Soldaten an der Front und ich wurde auf einem Küstenwachschiff eingesetzt, nach einem Jahr dann in einem Küsten- und Flusstransporter der Marine.

Durch die in jeglicher Art gegebene Unterstützung der Sowjetunion drang die Armee des kommunistischen Nordvietnam schnell in den Süden ein. Die Armee von Südvietnam verteidigte in Verzweiflung aber heldenhaft ihr Land. Die Regierung bat Amerika um Waffen zur Unterstützung, aber die GIs hatten ihre kalte Schulter gezeigt. Viele Armee-Einheiten von Südvietnam mussten wegen fehlender Munition und Waffen den Kampf aufgeben und sich nach und nach Richtung Süden zurückziehen. Die Bevölkerung flüchtete voller Angst und Panik aus ihrer Heimat.

Anfang 1975 als unser Schiff in Đà Nẵng lag, hatte ich Urlaub und ich war wieder bei der Familie in Saigon. Gerade hatte auch mein älterer Bruder Urlaub vom Militärdienst und war mit seiner Familie zuhause.
Die Stimmung in Saigon wirkte noch etwas entspannt, das alltägliche Leben der Menschen befand sich noch in einem normalen Rhythmus. Aber ich schätzte, dass sich das schnell ändern und die Lage in der Hauptstadt sehr ernst werden würde.
Ich nutzte die Gelegenheit Freunde und mir bekannte Professoren der Kunstszene zu besuchen, aber die meisten meiner Generation, die im Armeedienst waren, waren nicht zuhause.

Zurück zum Schiff in Đà Nẵng. Anfangs war die Stimmung meiner Kameraden und mir noch gelassen. Nur einige Tage später bekamen wir Nachricht, dass einige Gegenden im nördlichen Südvietnam vom Präsidenten Nguyễn Văn Thiệu aufgegeben wurden. Der Rückzug der Armee und die Evakuierung der Zivilisten Richtung Süden nach Huế und Đà Nẵng wurde befohlen. Die sorgenvolle Stimmung verbreitete sich fast überall im ganzen Land, besonders in der Mitte Südvietnams. Man wusste nicht, wie lange man es noch gegen die Kommunisten aushalten konnte.

Ich erhielt dann einen traurigen Brief von zuhause, das man sich am Stationierungsort der Einheit meines jüngeren Bruders gegen die Invasion der Kommunisten mit schweren Verlusten verteidigen musste. Viele Soldaten und Offiziere waren tot oder wurden schwer verletzt.
Die ganze Familie machte sich Sorgen um die Situation meines jüngeren Bruders. Anstelle meines Vaters wollte meine Mutter lieber selber zu ihm fahren. Sofort und trotz aller Umstände und Schwierigkeiten in das Kriegsgebiet zu fahren, hatte meine Mutter sich auf den langen Weg gemacht. Die Reise zu meinem Bruder dauerte zwei Tage.

Auf Erlaubnis des Kapitäns ging auch ich meinen verletzten, jüngeren Bruder, der hier in der Nähe von Đà Nẵng stationiert war, besuchen. Meine Mutter hatte ihn dort vorher schon einmal besucht, als er verletzt im Krankenhaus war. Als ich in seiner Einheit ankam, eine Einheit für die Frontrückkehrer, war die Stimmung dort sehr unruhig und chaotisch. Ich hatte ihn überall gesucht, nach ihm gefragt und ihn nicht gefunden. In meiner Verzweiflung kam ich zum Schiff zurück.

Ein paar Tage später hatte unser Schiff einen Befehl von oben erhalten, dass wir Kontakt mit den Heeres-Einheiten der Armee in der Nähe von Huế aufnehmen, um beim Rückzug von Soldaten und Zivilisten zu helfen. Unter dem Regen der Raketen der Kommunisten konnte unser Schiff nicht landen und wurde von einer wärmesuchenden Rakete getroffen. Die Rakete flog von oben durch die Brücke und den Steuerraum und explodierte unten im Maschinenraum. Bei der Explosion saß ich im hinteren Teil des Schiffes auf einer Holzbank, der Querbalken dieser Bank wurde von einem Metallteil getroffen. Wie durch ein Wunder wurde ich nur durch Holzsplitter am linken Bein verletzt. Im Steuerraum hatte ein Kamerad seine beiden Hände verloren. Dann hörte ich, dass zwei Maschinisten im Maschinenraum gestorben waren. Das Schiff fuhr nun ohne Landstreitkräfte und ohne Zivilisten, sondern nur mit einer defekten Maschine Richtung Süden.
Dann hatte der Kapitän empfohlen, dass die Verletzten, zu denen ich auch gehörte, an Land gingen und versuchen sollten aus eigener Kraft in ein Krankenhaus zu gelangen. Am Abend erreichten wir zu Fuß und mit allen Transportmöglichkeiten die Krankenstation einer Armeeeinheit. Die Verletzten lagen schon zwei Kilometer vorher links und rechts der Einfahrtstraße zu der Krankenstation auf dem kalten Boden. Viele warteten noch auf eine Behandlung. Weil es schon sehr dunkel war und wir auch sehr erschöpft waren, entschieden wir uns dann, dass wir uns zu den anderen legten und bis zum nächsten Morgen warten wollten, um dann zu entscheiden, ob wir bleiben oder gehen sollten.

Am nächsten Tag versuchten wir, weil wir uns durch gegenseitige Hilfe noch bewegen konnten, in den Hafen der Stadt Đà Nẵng zu gelangen. So ein Glück: Es gab dort noch einen Ozeantransporter der Marine, der wegen zu starker Überbelegung nicht starten konnte. Die Zivilisten auf dem Schiff hatten Angst, dass die Kommunisten die Stadt bald eroben würden, wollten schnell nach Süden flüchten und das Schiff nicht mehr verlassen. Weil wir von der Marineeinheit und verletzt waren, hatten wir einen Vorteil und durften an Bord und bekamen einen Platz auf dem Dach hinter der Brücke des Kapitäns.
Endlich hatte sich ein großer Teil der Soldaten und Zivilisten selbst geopfert und das Schiff verlassen, damit nicht alle sterben mussten, wenn die Kommunisten kamen. Das Schiff fuhr schließlich nach Saigon.

Nach und nach wurden auch die Armeeeinheiten meiner drei Brüder aufgelöst. Meine zwei älteren Brüder kamen zurück von Vũng Tàu und einer Provinz der Mitte der Gegend Quảng Ngãi. Mein jüngerer Bruder kam auch zurück aus der mittleren Gegend, aus der Nähe der Stadt Đà Nẵng und hatte ein Bein verloren.

Vom Marinehauptquartier in Saigon wurde ich in das Marinehospital eingewiesen, um die Holzsplitter zu entfernen und mein Bein dort behandeln zu lassen. Wegen Überfüllung lagen dort die verletzten Soldaten schon auf den Fluren. Für die lange Wartezeit auf eine Behandlung wurde ich beurlaubt.


30. April 1975 -
Ende einer Republik, "Ngày Quốc hận / Tag des nationalen Hasses"


Schon am 8. April 1975 wurde der Präsidentenpalast in Saigon von einem Piloten der südvietnamesischen Luftwaffe, der für die vietnamesischen Kommunisten als Spion arbeitete, bombardiert. Trotzdem war Präsident Nguyễn Văn Thiệu in seiner Residenz geblieben und regierte von dort weiter.

Am 21. April 1975 verfolgten wir mit einigen Nachbarn am Fernseher mit Spannung die Rede des Präsidenten zur Lage der Nation, dass die Kommunisten bald Saigon einnehmen würden. In der langen Rede dankte der Präsident dem Volk für das Vertrauen in ihn, und kritisierte, dass die Amerikaner Südvietnam beim Kampf gegen das kommunistische Nordvietnam und die Việt Cộng im Süden auf der halben Strecke im Stich gelassen hatten. Mehrere Male bat er den amerikanischen "Freund", weiter Waffen an Südvietnam zu liefern, um den Kampf zu unterstützen. Der "Freund" anwortete mit einem eiskalten "Nein."
Die Bevölkerung von Südvietnam glaubte sowieso, dass es keinen Frieden mit den vietnamesischen Kommunisten geben würde, weil im Jahr 1954 beim Abkommen der Genfer Konferenz das Land Vietnam am 17. Breitengrad geteilt wurde. Beim Rückzug nach Norden hatte Hồ Chí Minh einen Teil seiner Leute in Südvietnam gelassen, die später Việt Cộng genannt wurden. Zusammen mit diesen konnte der Norden Südvietnam sofort "befreien".
Dennoch, im Jahr 1973 hatten die Amerikaner Südvietnam gezwungen, das Friedensabkommen mit dem kommunistischen Vietnam zu unterschreiben. Die US-Armee zog sich nach Amerika zurück, obwohl sie wussten, dass der Norden den Süden sofort angreifen würde. Die Kommunisten nutzten das "Friedens"-Abkommen, um mit der Unterstützung der Sowjetunion Südvietnam schnell einnehmen zu können.
Nach der Rede übergab Präsident Nguyễn Văn Thiệu seinen Platz an den Vizepräsidenten Trần Văn Hương, einem alten, angesehenen Politiker, und trat zurück, dann emigrierte er nach Taiwan. Der neue Präsident bemühte sich um Friedensverhandlungen mit Nordvietnam und der Front der Befreiung Südvietnams (Việt Cộng), um kein Blut mehr zu vergießen.

Es war fast ein Wunder, die starken Entzündungen meines Beines waren zurückgegangen und ich konnte schon ohne Krücken laufen. Trotz aller Umstände bin ich nach ein paar Tagen in die Gegend des Marinehauptquartiers gegangen. In der Gegend war nicht nur das Marinehauptquartier, in dem ich schon gearbeitete hatte, sondern auch die Marine Schiffswerft, das Privatdomizil des höchsten Kommandanten der Marine, sowie das Marinehospital. Dort wollte ich mich über einen Behandlungstermin informieren lassen, an dem die Holzsplitter aus dem Bein operiert werden sollten. Gleichtzeitig wollte ich auch die schwerverletzten Kameraden besuchen.

Bereits vor dem Zugang der abgesperrten Gegend des Hauptquartiers sah ich, was ich mir noch nicht vorstellen konnte: In der Gegend des Hauptquartiers war eine unbeschreibliche Stimmung, wie in einer bald verlassenen Stadt. Das ganze Hauptquartier mit den vielen Marineeinheiten war in Aufruhr, die Soldaten reagierten so, wie die Küken ohne Schutz ihrer schon gestorbenen Eltern. Sie liefen ängstlich, verzweifelt und panisch hin und her auf dem schutzlosen Gelände, und am Himmel kreisten die Geier, bereit ihre Mahlzeit einzunehmen.
Schon am Zugang bildeten sich kleine Gruppen von Marine-Wachsoldaten, die über die aktuelle Situation diskutierten und ihre Pflichten nicht mehr wahrnahmen. Ich ging hinein. Ein Wachsoldat fragte mich: "Wo willst du noch hin? Die sind alle weg, alle Chefs sind weg!" Ein anderer: "Wir haben es auch gerade erfahren, als wir heute zum Dienst kamen." "Gestern war noch alles normal", sagte ein anderer Wachsoldat, der zu uns gestoßen war, und sprach weiter: "Die ganzen Schiffe sind auch nicht mehr da! Die sind bestimmt in der letzten Nacht mit den Schiffen aufgebrochen . . . . . . bestimmt nach Amerika, und wir haben es nicht gewusst." Einer der Wachsoldaten zu mir: "Wir gehen alle von hier weg. Wenn du noch rein gehen möchtest, dann schnell, und auch schnell wieder raus. Die Lage kann sich sehr rasch ändern."

Ich ging in das Hauptquartier, um mir kurz die Lage anzuschauen. Überall lagen Akten und Papier auf dem Boden verstreut, im Treppenhaus und auf dem Gelände. Dutzende von Soldaten waren noch zu sehen. Sie liefen in Angst und Panik hin und her, packten gerade ihre Sachen ein und wollten auch schnell weggehen, aber sie fragten sich: "Wie und wohin?" Das waren die Marinesoldaten, die, wie ich früher, im Hauptquartier stationiert waren. Ich wusste nicht, aus welchen Gründen sie noch da waren. Ihr zuhause war nicht in Saigon, sondern in den Gebieten, die die Kommunisten schon erobert hatten. Ich ging schnell aus dem Hauptquartier und entlang des Saigon-Flusses in das Gebiet des Marinehospitals.

Auf dem ganzen Weg zum Marinehospital sah ich kein einziges Schiff mehr am Ufer, nur die schwimmende Marine-Druckerei war noch da. Die Marinesoldaten, die in der Gegend waren, bewegten sich auch in eiligem Tempo, waren aber wie orientierungslos.

Im Marinehospital war eine so traurige Stimmung: Das Bettzeug und das Verbandsmaterial, manche noch mit Blut beschmiert, lagen chaotisch überall herum, so wie die Akten und Papier . . . . . . und so sah es auch in den Behandlungszimmern aus, an denen ich vorbeiging. Die Zimmer waren leer. Kein Mensch! Ich wollte den Ort eilig verlassen . . . . . . . . dann hörte ich "Hallo!" Ich bekam einen Schreck und drehte mich um. "Ah" ein Marine-Krankenpfleger, er sprach zu mir: "Warum bist du noch hier?" "Ich suche Kameraden, die wurden hier behandelt." "Die wurden alle entlassen, gestern. Das Hospital ist seit gestern aufgelöst." "Und du bist noch hier?", fragte ich. "Ich kann nicht gehen, hier liegen noch einige Schwerverletzte . . . . . Đà Nẵng, mein zuhause ist schon lange unter der Kontrolle der Kommunisten, . . . . . ich habe seit Monaten keine Nachricht mehr von meiner Familie . . . . . . ich hoffe . . . . . . . " Er konnte nicht mehr sprechen. Ich merkte, dass er versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Ein junger Mensch in meinem Alter, er wirkte intelligent und symphatisch. Ob man es möchte oder nicht, der Krieg hatte den Menschen in seinen Teufelkreis gezogen und machte das Leben fast aller Menschen zur Hölle . . . . . . . Wenn es keinen Krieg gegeben hätte . . . . . Ich bin gerade in meinen Gedanken, da holte er mich zurück in die Realität: "Hilfst du mir die Kartons mit zu packen und kommst du mit?" "Natürlich!" Ich packte drei Kartons mit Infusionen, es war nicht leicht, ging mit ihm durch einen langen Flur vorbei an einigen leeren Krankenzimmern und dann in einen großen Raum.

In dem Zimmer lagen elf verletzte Marine-Soldaten in ihren Betten. Viele Kartons stapelten sich an der Wand, wahrscheinlich aus dem ganzen Hospital gesammelt: Medikamente, medizinisches Zubehör und Lebensmittel. Ich sah noch einen Krankenpfleger, etwas älter, der gerade in das Zimmer hineinkam mit weiteren Kartons in den Händen. Er schaute mich mit erstauntem Gesichtsausdruck an und sagte: "Weißt du nicht, was hier schon passiert ist? . . . . aufgelöst! Die werden bald in Saigon eindringen, die Kommunisten." "Ja! Natürlich habe ich das auch schon gespürt!" "Wir sind ausgeliefert!"
Ein paar Minuten herrschte Stille im Raum. Aber es kam mir irgendwie sehr lang vor und so als ob die Welt vor dem Untergang stünde. Es war unerträglich, ich musste die Scheibe der Stille zerschlagen und erzählte von meiner Situation. Nachdem ich über mich berichtet hatte, sagte der ältere Krankenpfleger: "Meine Heimat ist Huế, ich war letztes Jahr das letzte Mal da. Ich habe noch die Hoffnung, meine Familie irgendwann zu sehen . . . . . . Die Kameraden, die hier noch liegen, sind sehr schwer verletzt, die können auch nicht nach Hause und kennen auch nicht die Situation ihrer Familien. Die sind weit weg von hier. Die Verletzten, die sich noch bewegen können, obwohl die Wunden noch nicht verheilt sind, haben alle Möglichkeiten zu nutzen versucht, um zu ihren Familien zurückzukehren. Manche kennen nicht einmal die Lage an den Orten, zu denen sie gehen wollen."
Ein paar Minuten Stille, dann sprach der jüngere Krankenpfleger: "Wir beide versuchen ihnen die Schmerzen zu linden, so weit es möglich ist. Die müssen noch operiert werden, aber kein Arzt ist mehr hier." "Alle Schiffe der Marine sind in der letzten Nacht mit den höheren Marine-Offizieren, dem Schiffspersonal und deren Verwandten bestimmt Richtung USA aufgebrochen", sagte der ältere Krankenpfleger. "Wir hätten auch versucht mit auf die Schiffe zu kommen . . . . aber wir konnten die Kameraden hier nicht im Stich lassen, außerdem waren alle Schiffe so überladen. Viele, die nicht zum Schiffspersonal gehörten, mussten an Land zurückbleiben." Ein schwer verletzter Soldat teilte seine Meinung mit: "Ihr hättet versuchen sollen mitzufahren, wir haben nichts mehr zu verlieren . . . . . aber ihr . . . . . ." Er konnte nicht mehr reden, weil ihn plötzlich Schmerzen überkamen. Ein anderer Schwerverletzter: "Ja, ihr hättet versuchen sollen, von hier weg zu kommen, wer weiß, was mit euch passieren wird."

Die anderen schwer verletzten Soldaten lagen still, wie halb tot, im Bett, nur ab und zu stöhnten sie bei Schmerzen, sie warteten vielleicht nur noch auf die . . . . Erlösung. Der junge Krankenpfleger, dem ich als erstes begegnet war: "Du solltest schnell weg von hier, zurück zu deiner Familie, bevor es zu spät ist." "Ja, er hat Recht, schnell zu deiner Familie . . . vielleicht könnt ihr noch irgendetwas unternehmen", sagte der ältere Krankenpfleger. "Und wie geht es hier mit euch weiter?", fragte ich. Der jüngere: "Du solltest gehen, wir könnten uns wiedersehen, wenn sich die Lage ändert." Er nahm meine Hände und drückte sie fest, dann: "Aber am Leben." "Ich hoffe!", antwortete ich, obwohl ich mir in dem Moment darauf wenig Hoffnung machte.
Nach dem Abschied ging ich in einer traurigen und sorgenvollen Stimmung nach draußen. Traurig über das, was ich im Hospital gesehen hatte. Sorgenvoll, weil ich an meine Familie denken musste.

Ich verließ schnell die Gegend des Marine Hauptquartiers und wollte schnell nach Hause. Vor dem Zugang zu der Gegend traf ich einen ehemaligen Kameraden, der mich fragte, ob ich mit ihm gehen wollte, da es noch eine Möglichkeit gab, Vietnam zu verlassen. Ein guter Freund von ihm war als zweiter Kapitän auf einem Schiff stationiert, welches in Kürze abfahren sollte. Das Schiff befand sich in Vủng Tàu und wir sollten versuchen, es mit allen Möglichkeiten zu erreichen. Wenn wir uns beeilen würden, könnten wir noch mit an Bord gehen. Ich antwortete: "Ich möchte gerne erstmal nach Hause, mich von meiner Familie verabschieden." Er sagte: "Dann werden wir das nicht mehr schaffen, ich habe meine Familie auch schon seit Tagen nicht mehr gesehen." Das war für mich eine schwierige Entscheidung, denn meine Familie lag mir am Herzen. Nachdem ich blitzschnell überlegt hatte, klopfte ich ihm auf die Schultern: "Ich wünsche Dir viel Glück in Amerika. Ich kann nicht mit dir gehen. Meine Familie braucht mich."

Präsident Trần Văn Hương bemühte sich, aber die Friedensverhandlungen mit der kommunistischen Regierung von Nordvietnam und den Việt Cộng waren erfolglos. Der Aggressor wollte nur eins: Südvietnam um jeden Preis besiegen und die Einnahme des Landes.

Trotz der Auflösung aller Armeeeinheiten, hatten viele Offiziere und Soldaten, die sich von anderen Kampffronten zurückgezogen hatten, die letzte Munition gesammelt. Zusammen mit den Soldaten aller Ämter und Geheimdienste wollten sie die Haupstadt so lange wie möglich gegen den Feind verteidigen. Man hörte, dass der Kampf noch andauerte.

Überall in der Stadt gab es Angst und Panikeinkäufe. Es gab auch Menschen, die sich das Leben nahmen. Ihre Kinder konnten deren Willen nur akzeptieren, weil ihre Eltern erzählt hatten, dass sie vor 1954 im Norden schon schreckliches erlebt hatten und das gleiche nicht noch einmal erleben wollten. Ebenfalls hatte sich auch ein altes Ehepaar, Besitzer eines Maßschneider-Geschäfts, die wir sehr gut kannten, das Leben genommen. In dem hinterlassenen Brief erfuhr man, dass sie sich nicht mehr in der Lage sahen, das Leben unter dem neuen Regime neu anzufangen.

In der Zeit merkte ich, dass sich auch das Verhalten der Menschen sehr geändert hatte. Die Leute, die früher Freunde waren oder sich gegenseitig gut kannten, hatten den gegenseitigen Kontakt abgebrochen oder verhielten sich wie Fremde. Im Gegensatz dazu, waren die Leute, die sich vorher gegenseitig nicht gut kannten oder sich fremd waren, plötzlich wie Freunde.

Ein dünner vietnamesischer Mann mit Hồ-Chí-Minh-Bart, der hinter unserem Haus wohnte, war immer zurückhaltend und still. Er äußerte sich dann in der Zeit negativ über die Regierung und hetzte andere Menschen gegen Polizisten und einige Bewohner des Stadtteiles auf.
In unserem Stadtteil wohnten vier Polizisten, die natürlich auch Vietnamesen waren. Einer davon wohnte neben uns. Seine Frau kam zu uns, um ihre Sorgen und Ängste zu teilen: "Die Freunde und Bekannten, auch mein Schwager, wenn sie uns begegnen, besonders meinen Mann, dann drehen die sich um und tun als ob sie uns nicht kennen. Mein Mann geht fast nicht mehr aus dem Haus. Was wird mit uns passieren, wenn die hier einmarschieren . . . . . . . . ziehen sie meinen Mann in die Öffentlichkeit und richten über ihn, so wie bei der "Cải cách ruộng đất / Agrarreform" in Nordvietnam von 1953-1956? Wir haben solche Angst." Die Nachbarin zitterte vor Angst und Sorgen.
Meine Eltern wussten in dem Moment nicht, was sie Passendes sagen sollten, weil die Polizisten für die kommunistischen Spione immer der größte Feind waren. So, wie mit anderen Nachbarn und Freunden, sagten meine Eltern: "Immer die Ruhe behalten, nicht reagieren, einfach ignorieren, wenn man nichts Falsches getan hat, braucht man keine Angst zu haben." In Wirklichkeit wussten wir ganz genau, dass die Kommunisten bald vor der Tür stehen würden. Alle Leute waren in Panik, Angst, Sorge. Wer sich dabei normal verhalten konnte, das wäre kein Mensch oder er wäre einer von den Kommunisten.
Zufällig hatten wir ein Paar Reissäcke á hundert Kilo, große Kartons mit Sardinenbüchsen und eingelegtes Gemüse von einem Lagerhaus-Besitzer zu einem günstigen Preis bekommen. Die Waren gehörten einer Import- und Exportfirma. Der Betreiber war vor einigen Tagen schon ins Ausland geflogen. Meine Mutter wollte die Nachbarin beruhigen und trösten: "Wir haben ein wenig mehr vom Reis, brauchen sie welchen?" "Ja, wir wären ihnen sehr dankbar! Wir waren schon überall, aber haben so wenig bekommen. Außerdem hat man diesen Monat noch kein Honorar an meinen Mann gezahlt. Die haben gesagt, dass er abwarten müsse, aber seit gestern war keiner mehr im Verwaltungsbüro." Die Nachbarin, Frau des Polizisten, bekam von uns eine große Schüssel Reis, ein Dutzend Sardinenbüchsen und trug alles mit ihrer Tocher nach Hause, nachdem sie uns noch einmal Danke gesagt hatte.

Nach dem 30. April 1975 wusste man, dass der Mann mit dem außergewöhnlichen Bart einer von denen war, ein Spion des neuen Regimes. Ein Marineoffizier, den ich aus der Druckabteilung des Marinehauptquartiers kannte, war auch einer von denen. Es gab fast überall in jedem Bereich in Südvietnam Spione für das kommunistische Nordvietnam, sogar bei den "Thượng toạ/Thera, geistige Führer des Buddhismus". Wenn die nicht die Maske fallen gelassen hatten, dann weiß man es heute auch noch nicht!

Am 28. April 1975 übergab Trần Văn Hương die Macht dann an General Dương Văn Minh. Dương Văn Minh war in der ersten Republik Vietnam (Südvietnam) Armeechef und Militärberater von Präsident Ngô Đình Diệm.
Im Jahr 1963 führte Dương Văn Minh mit amerikanischer Billigung den Militärputsch gegen diesen an und übernahm die Regierung. Präsident Ngô Đình Diệm, Präsident der ersten Republik Vietnam (Südvietnam), galt mit seiner vom Ausland unabhängigen Politik zum Nutzen von Vietnam für die Amerikaner als ungehorsam. Er lehnte es ab, Amerikas Armee zum Kampf gegen die Kommunisten in Vietnam zu stationieren. Einverstanden war er nur mit einer Unterstützung durch Militärwaffen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Durch Vermittlung des CIA-Mitarbeiters Lucien Emile Conein wurde Ngô Đình Diệm von seinen Generälen gestürzt, auch mit Unterstützung von buddhistischen Mönchen. Jahre später hatte man herausgefunden, das die meisten "Thượng toạ/Thera, geistige Führer des Buddhismus" Spione des kommunistischen Vietnam waren, und bis heute noch sind. Ngô Đình Diệm, ein Katholike, flüchtete am 2. November 1963 mit seinem Bruder Ngô Đình Nhu in die "Cha Tam" Kirche in Chợ Lớn und wurde von den Putschisten brutal ermordet.
Mit Dương Văn Minh hatte Trần Văn Hương die Hoffnung, dass er vielleicht ein Möglichkeit hätte, für das Land einen Rettungsplan zu haben . . . . . . . oder zu kapitulieren! Aber wie?!?!

Die Kommunisten standen in Saigon schon vor der Tür. Die wichtigen und großen Firmen, Konzerne und Fabriken wurden bereits dicht gemacht. Die Inhaber und deren Vermögen hatten sich schon vor einer Woche ins Ausland abgesetzt.

Vor dem Einmarsch der kommunistischen Volksrepublik Vietnam aus dem Norden hatten Intellektuelle, westlich orientierte Einwohner und Normalbürger von Südvietnam aus Angst, ihre Wertsachen und ihr Vermögen in Sicherheit gebracht. Westliches Kulturgut und Zeugnisse kapitalistischer Lebensweise wurden möglichst schnell komplett vernichtet.

In dieser Zeit hatte auch meine Familie die Geschäftsunterlagen, Kunstsammlung, Belletristik und Sachbücher aus der Republik China (Taiwan), Südvietnam, Hong Kong und dem Westen vernichtet. Die mehr als 30 Reissäcke á 100 kg wurden in Flüssen versenkt, zusätzlich sind dabei auch ein Großteil meiner frühen Werke zum Opfer gefallen, denn die könnten, so mein Vater, als kapitalistisch, vergnügungssüchtig und gegen die Arbeiterklasse verstanden werden. Auch fast alle Ausstellungskataloge und Fotomaterial waren dabei, sowie besonders auch schöne Kleider unserer Familie, die nur zu festlichen Angelegenheiten angezogen wurden. Von denen konnte meine Mutter sich nur schwer trennen. Aber das sollte auch nicht in die Hände von Fremden gelangen. Es gab nur noch einige Lehrbücher über Mathematik und Allgemeinwissen, die übrig blieben.

Anfangs hatte jede Familie die Vernichtung heimlich gehalten. Die Sachen wurden in der Nacht oder am frühen Morgen in den Flüssen versenkt. Später hatten alle gemerkt, dass sie nicht die einzigen waren, sondern alle hatten dasselbe Problem, die "Dinge" loszuwerden. Dann hatten alle keine Angst und keine Geheimnisse mehr.
Beim dritten Mal war ich am Fluss, um die Bücher zu versenken, die Sonne war gerade aufgegangen. Ich bekam einen Schreck, als ich plötzlich sah, wie am Ufer, circa 30 Meter von mir entfernt, auch ein Mann und eine Frau am Ufer hockten, die mit den Händen gerade noch die großen Reissäcke griffen. In Wirklickeit hatten wir uns gegenseitig erschreckt. Die beiden schauten mich an und grinsten plötzlich freundlich, dann nickte der Mann mit seinem Kopf. In dem Moment hatte ich plötzlich verstanden, was er meinte. Wir ließen die Reissäcke aus unseren Händen los und diese sanken langsam in den Fluss.
Ich hatte gehört, dass Hitler Bücher verbrennen ließ. Das war erschreckend, aber ich hatte das nicht mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber hier und in diesem Moment musste ich mit meinen eigenen Händen unsere geliebten Kunstwerke und Bücher vernichten. In mir war nicht nur Wut, Angst, Traurigkeit und Verzweiflung sondern auch Schmerz!

Für das Volk ging es überraschenderweise schneller als gedacht. Denn die Armee von Südvietnam hatte keine Möglichkeit mehr weiter ihr Land zu verteidigen, weil die Munition ausging. Die Armee des kommunistischen Nordvietnam und die Việt Cộng waren mit russischen Panzern nach Saigon hineingedrängt und bereits im Präsidenten-Palast. Nur zwei Tage nachdem Dương Văn Minh als Präsident von Südvietnam (Republik Vietnam) die Macht übernommen hatte, hatte er am 30. April 1975 gegenüber dem kommunistischen Nordvietnam (Sozialistische Republik Vietnam) und dem Việt Cộng kapituliert und er verkündete, dass die südvietnamesische Regierung aufgelöst wurde.


Der Aggressor an der Macht - Der neue Staat, die "Sozialistische Republik Vietnam"

Am 30. April 1975 war der Krieg wirklich endgültig vorbei, so wie es sich viele Menschen in Südvietnam immer gewünscht, es sich aber anders vorgestellt hatten. Die Armee des Nordens marschierte nach Süden und ganz Südvietnam wurde auch dunkelrot gefärbt!!! Für die Menschen in Südvietnam wurde der 30. April 1975 zum "Ngày Quốc hận / Tag des nationalen Hasses".

Bücherverbrennung, Freiheitsentzug, Propagandapolitik

"Đảng lãnh đạo, Nhà nước quản lý, Nhân dân làm chủ! / Die Partei führt, die Regierung verwaltet, das Volk ist der Eigentümer!" - Vietnamesische kommunistische Partei

Der erste Schritt, nachdem das kommunistische Vietnam Südvietnam eingenommen und den Sieg erklärt hatte, war, dass Akademien, Fachhochschulen, Universitäten , Schulen, Verlage, Druckereien, staatliche Büchereien, Bücherhäuser, Bücherläden und Zeitungsverkaufsstellen, alles, alles ab sofort dicht gemacht wurden. Alle literarischen Werke, Fachbücher, Magazine, Illustrierte, Drucksachen und Zeitungen der oben genannten Institutionen wurden nach und nach alle und alles gesammelt und ins Feuer gelegt bis sie zu Asche verwandelt waren.

Alle Strukturen und Denkmäler in jeder Stadt wurden auch am ersten "Befreiungs"-Tag zertrümmert. Nur wenige Denkmäler von vietnamesischen Helden der Antikzeit wurden veschont. Alle Kunstwerke, gleichgültig in welchem Stil, wurden in den öffentlichen Gebäuden, Ämtern, Firmen, Fabriken abgehängt. Ein Teil wurde sofort zerstört, ein Teil wurde abtransportiert, irgendwohin. Stattdessen wurden Portraits von Onkel Hồ (Hồ Chí Minh) dann an den wichtigen Stellen "ordentlich" präsentiert, dazu noch die Propaganda-Plakate der Partei.
Überall auf den Plätzen der Stadt, in den Eingängen der Parks, wo man auch hinblickte, sah man Portraits von Onkel Hồ. Auch auf den Altaren der Tempel und Kirchen wurden Portraits von ihm präsentiert. Natürlich auch die Propaganda-Plakate der Partei und riesig große Plakatwände und Banner wie:"Không gì quí hơn độc lập tự do! / Nichts ist kostbarer als Unabhängigkeit und Freiheit!"

Sofort wurden auch Regierungsmitglieder, höhere Beamte und Armee-Offiziere von Südvietnam gesucht, abgeführt und verhaftet, außerdem auch Einzelpersonen, Leute aus Vereinen und Organisationen, die gegen das kommunistische System waren. In der Bevölkerung des ehemaligen Südvietnam gab es Verhöre und Durchsuchungen nach den oben genannten Personen, die noch monatelang nach dem 30.04.1975 andauerten. Es schürte eine Stimmung der Angst, Sorge und Spannung unter ihnen.

Meine Schwester kam nach ein Paar Tagen nach Hause, um sich umzuziehen. Ihre drei besten Studienkameradinnen waren auch nur kurz bei uns, weil sie sofort wieder zurück mussten, wo sie herkamen, der Universität.
Ein Tag nachdem Südvietnam sich dunkelrot gefärbt hatte, wurden alle Studenten, Schüler und Arbeiter von Verlagen, Druckereien, staatlichen Büchereien, Bücherhäusern usw. vom neuen Regime über das Radio aufgerufen zu ihren Stellen zurückzukehren und mit den Revolutionären zu kooperieren, wenn sie nicht als Reaktionäre gelten wollten! Mit diesem Aufruf waren die Menschen natürlich "bereit dazu" und sind "freiwillig" zurück zu ihren Stellen gegangen um sich zu melden, weil sie Angst und Sorgen hatten, es könne ihnen etwas Schlimmes zustoßen.
Mit gestresstem, verzweifelten, ärgerlichen und ängstlichen Ton erzählte die Studienkameradin meiner Schwester, dass jeder Student nach "deren" vorgeschriebenem Text laut sagen musste, dass alle Bücher in der Bibliothek und der ganzen Uni zu der verfallenen und verdorbenen Kultur gehörte und deshalb alles verbrannt werden musste. Dann mussten alle Studenten ganz laut rufen: "Verfallen, verfallen, verdorben, verdorben" . . . . . . "Verbrennen, verbrennen". Die andere Kameradin sagte unter Tränen: "Die haben uns gezwungen, . . . . . gezwungen!"
Meine Schwester: "In den Experimental-Räumen haben die auch dummerweise mit den Gewehren alle Reagenzgläser zerschlagen" "Bei den Geräten haben die Genossen uns dauernd gefragt, was das sei. Wir haben erklärt, aber die haben auch sofort alles wütend kaputt geschlagen", erzählte eine Studienkameradin. Sie sagte weiter:"Die teuer importierten Geräte aus Europa und Amerika . . . . . . . Einige Geräte hielten sie für Funkkgeräte zum Kontakt mit den "Reaktionären", besonders bei Telefonen." Mein Vater: "Die haben solche modernen Geräte noch nie gesehen. Besonders die Việt Cộng, die meisten von denen haben sich bisher nur im Dschungel versteckt, woher sollten sie die kennen!"

Meine Schwester und ihre Studienkameradinnen hatten seit Tagen fast nichts gegessen. Jeder aß schnell bei uns eine Schale Reis mit Sardine aus der Büchse –gut, dass wir die noch hatten - und ein bisschen Gemüse dazu, dann machten sie sich wieder auf den Weg. Sonst drohte ihnen, dass sie "den Wert der Arbeit kennenlernten" . . . . . . weit, weit weg von Saigon, wie es Dutzenden von Studenten bereits passiert war.

Von gegenseitigen Erzählungen erfuhren die Studentengruppen, was bei anderen Gruppen bei der "Kooperationsarbeit" mit den Genossen in der Uni passiert war.
Ein Student einer anderen Gruppe erzählte, dass in der Bibliothek der Uni ein Genosse eine Studentin gerufen hatte und fragte: "Cô kia / Fräulein da, Was haben sie da an der Hand?" "Meinen sie mich?", antwortet eine Studentin. "Nein, neben ihnen." Die nebenstehende Studentin: "Ich?" "Ja, sie, was habe sie da an ihrer Hand?" Die Studentin war irritiert: "Bücher für die Sammelstelle!" "Nein, ich meine an ihrem Finger", der Genosse war ein wenig ungeduldig. Die gefragte Studentin: "Einen Ring, den habe ich von meiner verstorbenen Oma geerbt." "Geben sie her!" Die Studentin zögerte ein wenig, aber die Kameraden flüsterten ihr zu: "Wir haben allen Schmuck zuhause gelassen, wieso du nicht . . . !" Dann gaben sie ihr ein Signal, dass sie den Ring dem Genossen aushändigen sollte. Der Genosse nahm den Ring zwischen die Fingerspitzen, schaute genau hin und her. Ein paar Mal drehte er den Ring in der Handfläche um und schaute noch genauer hin, dann: "Gold?" Die Studentin: "Gold!" "Genossen, kommt mal her, ein Goldring", rief der Genosse. Die anderen Genossen schauten den Ring noch genauer an. Einer kratzte sogar mit den Fingelnägeln an dem Ring, der andere biss hinein oder rieb ihn an der Haut. Dann kam ein Genosse aus einem anderen Raum und nahm den Ring mit, um ihn auch den anderen Genossen zu zeigen.

Die Studentin hatte den Ring nicht zurück bekommen. Nach zwei Mal Nachfragen hatte ein Genosse erklärt, dass der Ring "vorübergehend" von seinem Gruppenführer einbehalten werden würde, dann würde der obere Kommandant über die Sache entscheiden.
Die Studentin hatte den Ring nie zurück bekommen. Das war ein einfacher Goldring, den sie von ihrer Oma geerbt hatte. Seit mehr als acht Jahren hatte sie ihn immer am Finger, zum Andenken an ihre verstorbene Oma.

Es gab auch viele weitere Geschichten über die Geschehnisse zu der Zeit in der Uni, die sich die Studenten gegenseitig erzählten, die unglaublich waren!
Nicht nur in der Universität sondern auch in anderen Institutionen, unter der normalen Bevölkerung passierten auch Geschichten mit den "Befreiern", die bei der Erzählung unglaublich klingen, die aber alle wahr sind, wahre Geschichten. Es war wirklich passiert.
Eine Mutter von vier Kindern erzählte, dass die Familie einen Tag nach dem Überfall, also am 1.5.1975 zum Abendessen bereit war. Auf dem Tisch: Ein Teller von "Thịt kho Trứng / Bauchfleischstücke, gekochte Eier geschmort mit Fischsoße (Ein bekanntes Südvietnamesisches Gericht)", ein halber gebratener trockener Fisch und eine große Schale gekochtes Gemüse mit Wasser. Daneben ein Topf mit gekochtem Reis. Die Frau erzählte: "Das war, was wir noch von den letzten Tagen übrig hatten. Es gab überall nichts mehr zu kaufen, mit dem Fisch und dem Fleisch müssen wir vielleicht noch Wochen auskommen."
Als die Familie das Abendessen beginnen wollte, wurde plötzlich die Haustür aufgestoßen, sieben Genossen von der "Befreiungs-Armee" kamen ins Haus. Nachdem sie das Haus überall durchsucht hatten, kamen sie zu der Familie am Esstisch. Ein Genosse fragte: "Was essen sie da?" Der Vater: "Fisch . . . getrockneter Fisch, Schweinefleisch und Eier." "Wo kommen die Sachen her?" Die Mutter erklärte: "Die habe ich vor ein paar Tagen noch auf dem Markt bekommen." Dann zeigte der Genosse auf den Kochtopf: "Und was ist da drin?" Der Vater: "Reis . . . gekochter Reis." Ein anderer Genosse: "Von der neuen Ernte?" Die Mutter erzählte: "Es gab seit Jahren nicht mehr genug eigene Ernte für die Bevölkerung, die Reisfelder wurden vom Krieg fast alle zerstört. Das ist ausländischer Reis . . . aus Amerika." Ein "Befreier" reagierte plötzlich panisch: "Vorsicht, die wollen uns vergiften. Esst das nicht!" Die Eltern reagierten total verwirrt. Was meinten die Genossen mit "vergiften"? Amerikanischen Reis hatte die Familie schon seit Jahren gegessen! In dem Moment konnten die Eltern nur warten, bis die Genossen der"Befreiungs-Armee" gingen, dann könnten sie in Ruhe zu essen anfangen, weil sie schon Hunger hatten."
Ein anderer Genosse flüsterte einem anderen ins Ohr: "Vorsicht Genossen, nicht essen, was von den Feinden kommt, das könnte giftig sein!" Dann sagte er weiter zu der Familie mit lautem Ton: "Essen sie mal! . . . Essen sie!" Die Kinder waren vor Angst erschrocken und weinten. Die Eltern waren ängstlich und noch mehr verwirrt. Dann der Genosse: "Esst, esst, lasst die Kinder essen." Die Kinder weinten noch lauter, die Mutter bereitete langsam vier Schalen, jede mit ein wenig Fleisch und Gemüse und sagte zu den Kindern: "Kinder, nicht weinen, esst mal, . . . . . esst mal, sonst werdet ihr Hunger haben." Mit ängstlichem Blick zu den "Befreiern" fingen die Kinder langsam an zu essen, die Eltern schlossen sich an.
Plötzlich rief der "Befreier" wieder laut: "So, das reicht!" Die Genossen kamen dann schnell zum Tisch, nahmen das Essen für sich und die Eltern mussten ihre Kinder weg vom Tisch ziehen.
Nachdem die "Befreier"-Genossen alles auf dem Tisch aufgegessen hatten, gingen sie auch noch zum Herd, um die Reste aus den Kochtöpfen zu essen. Dann sagte ein "Befreier"-Genosse mit einem gemütlichen, zufriedenen Tonfall: "Wir kommen, um euch zu befreien. Die Sklaverei und Ausbeutung ist jetzt für euch vorbei. . . . Was wir hier sehen, ist nur Armut und Elend. Im Norden haben wir ein besseres Leben als hier. Alle sind mehr als glücklich und satt vom guten Essen." Ein anderer "Befreier": "Wir haben moderne Hochhäuser, Fabriken und Krankenhäuser . . . alle sind ganz modern . . . . . der kommunistischen Partei sei Dank."
Das glaubte natürlich trotzdem niemand und in Wahrheit war das Leben des Volkes in Südvietnam anders als es die Dauerpropaganda der kommunistischen Partei Vietnams erzählte. Die "Befreier"-Genossen erzählten, egal wo und wann sie erschienen, immer die Unwahrheit über Südvietnam, obwohl sie die Tatsachen mit ihren eigenen Augen sahen. Sie erzählten die Lügen und machten Propaganda für die kommunistische Partei Vietnams und deren Regierung, als ob man ihnen eine Sprechmaschine in ihr Hirn gepflanzt hätte!
Die Wahrheit war auch, dass es bis zu der Zeit kein einziges Hochhaus in der "Sozialistischen Republik Vietnam" zu sehen gab. Das einzige hohe Gebäude war das Mausoleum von Hồ Chí Minh in Hà Nội. In der Bevölkerung gab es nicht genug zu essen, sie waren froh, wenn es eine einfache Mahlzeit gab. Die Tatsachen der "Sozialistischen Republik Vietnam" vor 1975 wurden auch von Journalisten aus Amerika und Europa mit Fotos und Filmen dokumentiert.

Ein großer Demonstrationszug mit "Begleitern" marschierte durch die großen Straßen der Stadt Saigon. Man sah Schilder, die von den Demonstranten hochgehalten wurden, wie zum Beispiel: "Nieder mit dem Kapitalismus", "Nieder mit dem Individualismus", "Nieder mit der verfallenen und verdorbenen Kultur", "Vernichtet die reaktionäre, verfallene und verdorbene Kunst und Literatur", "Für ewig Vorsitzender Hồ Chí Minh ", usw. Die "Begleiter" sprachen ganz laut durch den Lautsprecher die Texte auf den Schildern nach und die Demonstranten sprachen sie ebenfalls im Zweiminutentakt nach. Man hörte auch, dass die "Begleiter" nicht zufrieden waren mit vielen der Demonstranten und immer lauter schrien: "Lauter, lauter . . . . . . lauter!"
In der Menge am Straßenrand waren einige irritierte Leute, die neugierig zuschauten und nicht ganz zu verstehen schienen! Denn man sah überall die großen Banner: "Không gì quí hơn độc lập tự do! / Nichts ist kostbarer als Unabhängigkeit und Freiheit!" Was meinte das Regime wirklich mit "Freiheit"? Es gab Leute, die sich so gefreut hatten, dasss der Krieg endlich vorbei war und sie sich wieder frei ausleben konnten, so wie zum Beispiel ein Ex-Grundschul-Kamerad von mir: "Siehst du, nichts ist kostbarer als Freiheit, wir können endlich frei leben." In dem Augenblick kamen die Demonstrations-Begleiter zu ihnen und den anderen Passanten und zogen diese zusammen in den Demonstrationszug hinein. Die anderen Passanten versuchten unbemerkt und auf der Stelle zu verschwinden.
Ich ging auch schnell in eine Nebenstraße hinein. Einen Schreck bekam ich, als ca. 30 Meter vor mir eine kleine Gruppe Leute von zwei Polizisten kontrolliert wurde. Ich drehte mich sofort um und ging in eine kleine Querstraße. Gleichzeitig schaute ich kurz zurück und sah, dass die Leute von den zwei Polizisten in Richtung des Demonstrationszuges geführt wurden. Gut, dass sie mich nicht gesehen hatten! Mit schnellem Tempo ging ich weiter . . . . . . . . . . . .

Es gab eine Bekanntmachung: Wer Drucksachen in jeglicher Form, Bilder, Strukturen, Uniformen der alten Regierung, von westlichen oder von westlich orientierten Ländern besaß, sollte diese unverzüglich bei der örtlichen Behörde abgeben.
Bei der Abgabe musste der Name und die Adresse des Besitzers angegeben werden. Jedes Buch, jede Illustrierte, jedes Magazin usw. wurde von den Behörden notiert, sowie auch jedes Kunstwerk. Danach mussten die Besitzer sich jeden Tag zum "Interview" bei den Behörden melden. Wer arbeiten musste, bekam offiziell einen Bescheid für seine Arbeitseinheit, um für die "Interview"-Stunde frei zu bekommen. In Wirklichkeit mussten sich die Arbeiter aber jeden Tag nach der Arbeit bei den Behörden melden. Das tägliche "Interview" konnte bis zu drei Stunden dauern.
Es wurden bei den "Interviews" immer dieselben Fragen gestellt, wie: "Wissen Sie, wer noch solche verfallenen und verdorbenen Kulturgüter besitzt?", "Wann haben sie dieses Buch gelesen? Erzählen sie uns den Inhalt!", "Wie fanden Sie den Inhalt dieses Buches? . . . . . Gut? " oder "Was interessierte sie am Inhalt dieses Buches? . . . .Warum?" oder "Was interessiert sie an diesem Bild? Erzählen sie, was das für sie bedeutet!", "Wann haben sie dieses verfallene und verdorbene Kunstwerk bekommen?", "Kennen sie den Schriftsteller/Künstler persönlich?" usw.
Die "Interviews" haben für manche Personen monatelang gedauert. Manche mussten nach dem "Interview" noch bis zu einem Jahr lang täglich an "Hilfe-Seminaren" teilnehmen, um sich an "gesundem Gedanken und Geist zurück zu orientieren" und den "Wert der Arbeit zu erkennen".

Personen, bei denen bei einer Durchsuchung noch "verfallene und verdorbene Kultur bzw. Sachen" gefunden wurde, wurden natürlich sofort zur Umerziehung an einen fremden Ort gebracht.
Viele Leute, wie zum Beispiel wir, die die "verfallene und verdorbene Kultur" vor dem 30.4.1975 vernichtet oder diese gut versteckt hatten und die dann zum großen Glück nicht von den Behörden des neuen Regimes bei einer Durchsuchung gefunden wurde, blieb dieses Schicksal erspart. Bei uns fand man nur ein paar Mathematik- und Allgemeinwissen-Bücher, trotzdem wurden sie von der Behörde beschlagnahmt.
Was wäre passiert, wenn die "reaktionären Schriftsteller und Künstler" es nicht geschafft hätten vor dem 30.4.1975 ins Ausland zu fliehen, sie es nicht geschafft hätten ihre Werke zu vernichten oder sie es nicht geschafft hätten sie außer Landes zu bringen? Allein der Gedanke daran verursachte bei mir Gänsehaut! In dem Moment war ich froh, dass ich in vietnamesischen Kunstkreisen nicht so bekannt war, sondern stattdessen landesweit bekannt in der chinesischen Gesellschaft und Künstlerszene, denn meine Leidenschaft hatte und habe ich hauptsächlich für die chinesische Tuschemalerei. Dadurch hatte das neue vietnamesische Regime mich nicht im Auge gehabt und ich war in diesem Fall einem schlimmen Schicksal entkommen.

Kinder als Werkzeug der Partei

Alle Schüler und Studenten, die die Schule und Universität zur alten Regierungszeit besucht hatten, darunter auch meine Geschwister, wurden zu allen möglichen schweren Arbeiten abkommandiert, um "den Wert der Arbeit zu erkennen". Die meisten waren froh, dass sie eine Mahlzeit bekamen, halb satt waren und nicht verhungerten.
Nur die Kinder der Grundschule durften wieder in die Schule gehen. Die chinesischen Schulen wurde alle verstaatlicht, genauso wie ihre modernen Krankenhäuser. Die chinesischen Grundschüler wurden auch wieder unterrichtet, aber nur noch in vietnamesisch. Es gab kein chinesisches Schulsystem mehr.
Es fing alles wieder neu an, ein neues Lernsystem der kommunistischen Regierung. Nur mit den Kindern kann man ein neues Erziehungssystem anfangen.

Später, etwa nach acht Monaten, erzählten meine jüngste Schwester und mein Bruder, zwölf und zehn Jahre alt, dass in der Schule bis zu der Zeit nur Lieder und Lektionen gelehrt wurden, die inhaltlich die kommunistische Partei lobten, Onkel Hồ Chí Minh ehrten, und über den bösen Kapitalismus und die Aggressoren aus USA erzählten, die man vernichten müsse.
Es war für meinen jüngsten Bruder und die Schwester langweilig, immer dasselbe Thema in der Schule zu hören und es fast dauernd zu wiederholen. Mein Bruder mochte nicht mehr zur Schule gehen und sagte: "Für so etwas muss ich nicht in die Schule gehen, wenn ich möchte, dann kann ich das auch zuhause lesen . . . . . immer dasselbe!" Das hatte meine Eltern und mich sehr besorgt. Mein Vater hatte ihn angewiesen, dass er weiter in die Schule gehen sollte. Nicht in die Schule zu gehen, das hieß: Gegen das Schulsystem und gleichbedeutend auch gegen die Regierung zu sein.
Andererseits hatten meine Eltern sich gefreut, weil viele andere Kinder ein ganz anderes Verhalten hatten, das deren Eltern empörte: Die Kinder erzählten und sangen zuhause dauernd über Onkel Hồ, erklärten den Eltern über die Partei und was die alles für das Volk getan hatte. Alle sollten dankbar sein, dass es die kommunistische Partei gab, sonst wäre man ein Verräter. "Ich möchte kein Verräter sein, und Mutter, Vater, ihr sollt auch keine Verräter sein, nicht wahr!?" Die Kinder waren in der kurzen Zeit schon sehr stark beeinflusst und für ihr Alter sehr politisch geworden. "Früher waren wir nur Arbeiter, jetzt sind wir die Eigentümer des Landes. Die Regierung arbeitet und verwaltet für uns. Die Partei führt uns und zeigt uns den richtigen Weg!" . . . . . . .
Die Kinder, besonders die Jungpioniere spionierten ihren Eltern nach. Die Eltern mussten sich vorsichtig vor ihren Kindern und bei Kontakt mit anderen Leuten äußern. Noch schlimmer war, dass manche Kinder sogar ihre Eltern unter Druck setzten und drohten: " . . . . . . . wenn nicht, dann erzähle ich dem Parteifunktionär, dass ihr . . . . . . . . . . . !!!!"

Ein sehr bekanntes Kinderlied, das immer von Kindern gesungen wurde, überall und auch zuhause, war: "Đêm qua em mơ gặp Bác Hồ. Râu bác dài tóc Bác bạc phơ . . . . . . . . . . / Gestern Nacht habe ich von der Begegnung mit Onkel Hồ geträumt, der Bart vom Onkel ist lang und die Haare sind grau . . . . . . . ." und danach hatte fast jedes Kind die Sehnsucht, Onkel Hồ zu treffen. Dafür sollten die Kinder der Partei treu und gehorsam sein und brav, wenn sie ihren Traum verwirklichen wollten. Gegenüber den Eltern war das Verhalten der Kinder das Gegenteil.

Irgendwann, eine kurze Zeit später, kamen meine jüngsten Geschwister von der Schule nach Hause. Mein jüngster Bruder hatte ein rotes Tuch um den Hals gebunden. Seine Klasse wurde zur Jungpionierklasse erklärt, weil in der Klasse viele aktive und "gute" Schüler waren. Ein großer Teil der Schüler hatte damit die Veranwortung, dass sie mehr Einfluss auf die anderen der Klasse hatten, die noch nicht so weit waren, weil sie bei dem Programm der Partei noch nicht so aktiv waren.
Die Schüler wurden in Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe mit ein oder zwei, die noch von den anderen lernen sollten, um ein guter Jungpionier der Partei zu werden. Natürlich gab es einen in jeder Gruppe, der direkt vom jungen Parteifunktionär ausgebildet und als Führung der Gruppe eingesetzt wurde.
Mein Bruder traf sich nach der Schule ab und zu mit seinen zwei engsten Kameraden bei uns zuhause. "Niemand kann mich beeinflussen, ich mag die nicht." "Bei mir ist das auch so, die sollen machen was die möchten, ich aber nicht . . . . . . . Mein Vater sagt zu mir, dass ich mich auch ein bisschen anpassen soll." "Mein Vater fragt sich auch, was das alles in der Schule soll, aber mein Vater sagt auch, das wir ein wenig so tun sollen, damit die nicht unzufrieden mit uns werden." Meine jüngste Schwester verhielt sich meistens ruhig: "Ihr sollt leise sein, vielleicht hört jemand euer Gespräch, und nicht in der Schule darüber sprechen. . . . . . . . . . . ."

Im Jahr 1978 ließ mein Vater meinen jüngsten Brüder nach seinem Willen zusammen mit meinem ältesten Bruder und seiner Familie aus Vietnam mit dem Boot flüchten. Mit dabei waren auch zwei andere Brüder von mir. Später in Australien hatte mein jüngster Bruder mit erfolgreichem Abschluss studiert, genauso später die Kinder von meinen Brüdern und Schwestern, die auch heute in Australien und den USA leben.

Unter totalitärer Kontrolle

Nach dem 30.4.1975 wurde sofort auch die Bevölkerung unter die strenge Kontrolle der Polizei, der sogenannten "Công An /Öffenliche friedliche Ordnung" des neuen Regimes gebracht, indem jeweils zehn Häuser (zehn Familien) zu einer Gruppe zusammengeschlossen wurden mit je einem Gruppenvorstand. Je zehn Gruppen bekamen dann einen "betreuenden Polizisten".

Der "betreuende Polizist" konnten jederzeit die Gruppenvorstände zur Versammlung rufen und sich darüber informieren lassen, was alles in den Gruppen abgelaufen war. Wer hatte was gemacht, wer hatte was geäußert, wer hatte Kontakt mit wem, wie verhalten sich die Leute in den Gruppen. Wenn nicht rechtzeitig informiert wurde, dann wurde der Gruppenvorstand mit verantwortlich gemacht. Nicht nur der "betreuende Polizist" sondern auch andere Polizisten und Behörden konnten jederzeit jede Familie "besuchen", sehen ob alles "in Ordnung" war und Fragen stellen. Der Gruppenvorstand hatte auch die Aufgabe, die Leute zu animieren die Richtlinien der kommunistischen Partei und der Regierung auszuführen und zu Versammlungen zu gehen.

In jeder Gruppe sollte ein Gruppenvorstand gewählt werden, aber fast in allen Gruppen wollte niemand dafür kandidieren und am Ende wurde vom "betreuenden Polizisten" jemand ausgesucht und zum Gruppenvorstand bestimmt.
In unserer Gruppe hatte ein Mann sich nominieren lassen, aber die Leute hatten meine Mutter als Vorstand vorgeschlagen. Meine Mutter hatte viele Gründe genannt, warum sie das nicht annehmen sollte, wie zum Beispiel: "Wir waren eine Unternehmer-Familie. Nicht eins meiner großen Kinder hat bis jetzt richtig gearbeitet und stattdessen nur studiert. Meine Kinder waren auch in der Armee der ehemaligen Regierung . . . . . . . Das wurde schon als Verrat an der Arbeiterklasse betrachtet! Nein, nein, ich möchte nicht . . . . . ." Meine Mutter hatte noch nicht zu Ende geredet, aber die Leute ließen das nicht gelten und wollten unbedingt, dass meine Mutter die Gruppenvorstandsfunktion annehmen sollte: "Ihre Kinder hatten sich nicht freiwillig bei der Armee gemeldet. Sagen sie, dass das die Wahrheit ist." Eine andere Nachbarin: "Ja! Mein Junge wurde auch zur Armee 'gezwungen'!" , natürlich hatte die Nachbarin nicht die Wahrheit gesagt. Ein Anderer: "Große Schwester, nehmen sie die Stelle als Vorstand bitte an, . . . . bitte!" "Ja, bitte, bitte !"
Der "betreuende Polizist" hatte das die ganze Zeit beobachtet und zeigte ein neugieriges und erstauntes Gesicht. Als er zu Wort kommen wollte, flüsterte der Mann, der neben meiner Muter saß, in ihr Ohr: "Nehmen sie die Stelle bitte an, Große Schwester, wenn er einen bestimmt, einen von denen, dann haben wir kein Leben mehr!" dann rief der Nachbar plötzlich laut: "Große Schwester Trần (陳/Chen), vertrete unsere Gruppe, ich bin dafür!" "Ich auch!" Der ganze Raum war in tiefer Spannung, dann plötzlich ganz laut, denn fast jeder meldete sich zu Wort: "Ja, ich bin auch für Große Schwester Trần!" "Ich natürlich auch." "Ich auch!" . . . . . . . . . Es war so laut und meine Mutter konnte nicht mehr ihre eigene Meinung dazu sagen . . . . . . . . . . . Der "betreuende Polizist" stand mit einem unzufriedenen Gesicht auf, er drehte sich um, ging zur Ausgangstür und sprach mit dem Rücken zu den Leuten: "Die Versammlung ist beendet."

Auf dem Weg nach Hause sagte ein Nachbar: "Große Schwester, gut, dass du die Stelle angenommen hast. Wir wissen, dass in unserem Viertel genug von denen sind. Wenigstens kann ich heute Nacht ein wenig schlafen! . . . . . Und Morgen . . . . . man weiß nicht, was Morgen noch passiert!" Ein anderer Nachbar: "Ja, ich bin auch froh darüber, ich und mein Mann hatten vorher solche Sorgen! Der im grauen Hemd, der sich für die Stelle nominiert hatte, ist bestimmt einer von denen." Die Nachbarin neben uns (Frau des Ex-Polizisten): "Wir wissen, dass unsere Große Schwester uns nicht verraten wird. Wenn einer von denen uns vertreten würde, dann hätten wir noch mehr Sorgen und ungewisse Angst." Die ganzen Nachbarn diskutierten weiter auf dem Weg nach Hause mit Sorgen und Spannung, denn sie wussten nicht, was in den nächsten Tagen noch passieren würde!

Meine Mutter fühlte sich als Opfer für das Ganze, was bei der "Wahl-Versammlung" passiert war. Mein Vater war "krank" und deswegen nicht bei der "Wahl-Versammlung" dabei. Als er erfuhr was in der Versammlung passiert war, war mein Vater wortlos und hatte Sorgen, dass meine Mutter in eine schwierige Lage geraten war und wie demnächst die Situation geregelt werden könnte! Meine Mutter stand nach diesem Zeitpunkt in der Mitte, zwischen zwei Fronten!
In der Zeit danach, bevor sie zur Gruppenvorstandsversammlung ging, saßen mein Mutter, mein Vater und eins von uns Kindern zusammen und überlegten ganz genau, wie und was meine Mutter erzählen sollte, um die Nachbarn nicht zu verraten und am wichtigsten, dieses dem "betreuenden Polizisten" glaubhaft zu vermitteln. Am einfachsten wäre es zu behaupten: "Ich weiß davon nichts, ich habe nichts gehört und auch nichts gesehen." Aber es gab ein Problem: Vielleicht gab es in dem Viertel noch jemanden, der doch für den "betreuenden Polizisten" spionierte.
Meine Eltern schickten meine jüngste Schwester zu den Nachbarn, um ihnen zu sagen, dass sie bei einer Begegnung in der Öffentlichkeit den Kontakt vermeiden sollten. Bei einem Treffen müsse man dann sehr vorsichtig sein.
Wir warteten jedesmal gespannt zuhause bis meine Mutter von der Gruppenvorstandsversammlung zurückkam und hörten dann auch gespannt meiner Mutter zu, wie sie erzählte, was passiert war.
Es gab auch regelmäßige Frauenversammlungen und Jugendtreffs und die Menschen hatten keine Zeit mehr für ihr Privatleben.

Erinnerung an die Jugendzeit

Die "Befreiungs-Armee" des Nordens hatte den Plan ihrer Regierung gut ausgeführt. Sie wussten ganz genau, was sie sofort nach dem Sieg über das überfallene Südvietnam durchführen sollten.
Sofort wurden Lagerhäuser der ehemaligen Regierung und von Privateigentümern verriegelt und unter Bewachung gestellt. Nach und nach wurden der Qualitäts-Reis und alle anderen Waren aus den Lagerhäusern nach Nordvietnam transportiert. Der Norden hätte angeblich bei der "Befreiung" des Südens viel geopfert, jetzt sollten sie mit den Gütern des "Aggressors USA" und der reaktionären Regierung des Südens entschädigt werden. Die Güter des Westens waren dort hoch begehrt. Genauso wurden später auch Rohstoffe, Reis und andere Güter von Kambodscha nach Vietnam transportiert, als das kommunistische Vietnam Kambodscha besetzte.

Ich wollte hinausgehen zu den zwei Lagerhäusern an den Uferstraßen des Flusses an der rechten Seite. Die Kinder der Besitzer waren Freunde von mir und ich wollte sehen was noch passieren würde. Eins davon war Studentin von Professor Meister 陈章卿 (Chen Zhang Qing) und das andere hatte ich bei der Marine kennengelernt. Der war in Amerika bei der Marineausbildung und zurück nach Vietnam gekommen . . . . . . . Ich ging zu der Terrasse und nachdem ich die Terrassentür geöffnet hatte, blieb ich stehen. Minutenlang stand ich dort, schaute dann über die Straße direkt in Richtung des Flusses vor unserem Haus. Ich erinnerte mich an damals . . . . . . . . . . .

Damals . . . . . . . . . im Jahr 1957 war unsere Familie aus der Provinz Ba Xuyên hierher umgezogen, an den Rand der Hauptstadt Saigon, ein ruhiger Ort, aber man konnte mit allen möglichen Verkehrsmitteln schnell das Zentrum der Metropole erreichen.
Unser Haus lag an der Uferstraße am Fluss, über die Straße gab es früher eine breite Wiese entlang des ganzen Ufers mit einer Reihe von 楊樹 (Cây Dương / Casuarina equisetifolia / Schachtelhalmblättriger Kasuarine Baum). Wir hatten einen freien Blick zur anderen Seite des Ufers und auf den Straßen war fast kein Autoverkehr. Eine Landschaft, die nicht nur schön war, sondern auch romantisch.
Als Kinder hatten meine Geschwister und ich immer in der trockenen Zeit mit der Matte auf der Wiese gesessen und gelegen und spielten nach dem Abendessen bis zum Sonnenuntergang. Mein Vater kam oft spät nach Hause, ansonsten saß er aber immer bei uns. Auch die Nachbarskinder kamen ab und zu, um mit uns zu spielen.
Auf der Wiese waren schöne wilde Blumen, und je nach Jahreszeit verschiedene Insektenarten. Am schönsten war die Zeit mit den Glühwürmchen.

In den Siebziger Jahren hatte sich der Krieg dramatisch verschlimmert. Die Menschen aus den Kampfgebieten waren nach und nach in die Hauptstadt Saigon geflüchtet. Die Flüchtlinge hatten die Bäume auf der unserem Haus gegenüberliegenden Wiese gefällt und dort ihre Häuschen gebaut. Seitdem konnten wir den Fluss und die andere Seite des Ufers nur noch sehen, wenn wir über unseren Hobbybauernhof auf der Wiese hinwegschauten. Der Hobbybauernhof war dann für mich der einzige Ort mit einem weiten Blick zur anderen Seite des Flusses für meine Früh-Gymnastik. Für uns, die Kinder, war der Hobbybauernhof ein Ort, an dem wir uns mit Pfanzen und Tieren beschäftigten. Aber nach dem Jahr 1975 waren in dem Hobbybauernhof nur noch einige Gemüse- und Kräuterpflanzen übrig. Es gab keine Blumen und Tiere mehr. Blumen waren ein Luxusgut und die Tiere wurden von der Behörde beschlagnahmt.

Der Fluss, an dem wir wohnten war ein Querfluss, in Wirklichkeit ein Kanal, der in der französischen Koloniezeit gegraben wurde, zwischen zwei Flüssen. Der Fluss zur linken Seite war sehr groß. Der zur rechten war kleiner, aber hatte dauernd Schiffsverkehr, weil es an dessen Uferstraße mehr Lagerhäuser gab, als bei dem Fluss vor unserem Haus.
Bei uns gab es nur zwei Lagerhäuser, beide lagen jeweils am linken und rechten Ende der Uferstraße, an der wir wohnten. Dort ging ich schon als Kind ab und zu hin, um die Schiffe zu betrachten, wie sie am Ufer anlegten und ablegten, wie die Warenträger die Waren auf der Schulter vom Schiff über eine schräge, elastische Holzplanke, circa 40 cm breit und 10 cm dick, bis zum Ufer und dann direkt ins Lagerhaus trugen. Das war eine tolle Leistung der Warenträger. Sie balancierten wie die Akrobaten im Zirkus. Es war auch schon damals ein unwohles Gefühl in mir, wenn ich diese Warenträger sah, wie sie oft Waren wie einen hundert Kilo schweren Reissack auf den Schultern trugen. Mit ihnen hatte ich immer Mitleid.

Am Ende der rechten Seite unserer Straße an der Flusskreuzung befand sich ein Hügel, genauso wie am anderen Ufer, unserem Haus gegenüberliegend. Die beiden Hügel waren durch eine Autobrücke verbunden, diese bestand aus einer Eisenkonstruktion und war mit dicken Holzplatten belegt. Man erzählte, dass die Brücke auch schon in der französischen Kolonialzeit gebaut wurde, und damals sehr wichtig für die Lagerhäuser der Gegend war, später dagegen, etwa zu meiner Kindheitszeit, war sie nicht mehr notwendig. Auf dieser Brücke fuhr seit meiner Kindheit kein Auto mehr, weil die Holzplatten nicht mehr stabil waren und sie drohte jederzeit einzubrechen. Die Brücke wurde nicht repariert, solange wir dort lebten. Es war für das Straßenbauamt nicht so wichtig, es fuhren in der Gegend sowieso sehr wenige Autos und diese mussten dann nur einen kleinen Umweg fahren.

Der Krieg und seine Opfer - Schicksal eines Nachbarn

Ein lauter Schrei holte mich zurück in die Gegenwart. Der alte Nachbar, Onkel Sáu, der schräg gegenüber von uns wohnte, lief auf der Mitte der Straße, wie es schon ein paar Mal passiert war und er schrie: "Gebt meinen Kindern das Leben zurück, ihr Mörder, ihr unmenschlichen . . . . ihr seid nicht mal Tiere . . . ." Die Tochter rannte sofort aus dem Haus, mit einer Hand hielt sie ihren Vater fest, mit der anderen seinen Mund: "Vater, Vater, komm ins Haus . . . Da ist unser Haus!" Tante Sáu, seine Frau, kam auch sofort zu ihm. Mutter und Tochter versuchten den Mann ins Haus zu bringen aber er wirbelte so stark herum und wieder schrie er: "Ihr Mörder . . . . . ihr . . . . ." Als ich hinüber ging und Tante Sáu helfen wollte, war auch schon der Nachbar, der neben der Familie wohnte, hinzugekommen. Zusammen brachten wir Onkel Sáu wieder in sein Haus. Die Ehefrau weinte in tiefer Verzweiflung: "Es ist schon traurig genug, warum machst du noch mehr Probleme . . . . ." Die Tocher weinte auch mit ihrer Mutter. Der Onkel beruhigte sich langsam und kam wieder zu sich.
Ich ging wieder zurück. Vor unserem Haus standen bereits einige Nachbarn mit meinen Eltern und unterhielten sich mit Mitleid und traurigen Gesichtern: ". . . . .es ist schwierig, eine seelische Krankheit zu behandeln!" Der linke Nachbar: "Vielleicht sollte er ab und zu mal Beruhigungstabletten nehmen, das kann vielleicht ein wenig helfen." Die Nachbarin: "Woher soll man heutzutage noch Tabletten bekommen? Alle Apotheken wurden dicht gemacht, viele Ärzte sind auch schon verschwunden." Eine andere Nachbarin: "Mein Mann nimmt täglich eine Tablette, wir haben seit gestern in der ganzen Stadt danach gesucht aber nirgendwo welche bekommen!" Mein Vater: "Wir hoffen, dass die Familie nicht noch mehr Probleme bekommt." Der Nachbar: "Wenn er weiter so schreit, wird man ihn vielleicht einsperren, auch wenn er krank ist . . . .'Mörder' . . . ., man weiß schon, was die davon denken." . . . . . "Traurig!"

Das Ehepaar Sáu und deren jüngste Tochter flüchtete vor ein paar Jahren (1971) aus dem Kriegsgebiet in die Hauptstadt Saigon. Auf der Wiese gegenüber unseres Hauses am Ufer hatten sie ein Häuschen gebaut und lebten dort seitdem als unsere Nachbarn.
Tante Sáu hatte uns und den Nachbarn schon erzählt, dass bevor die Famillie in die Stadt Saigon kam, sie Bauern einer Obstplantage in einer ländlichen Gegend waren, in der Nähe von Mỹ Tho, wie viele andere Menschen auch, die dort gelebt hatten.
Das Ehepaar hatte zusammen fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter. Mit der Obstplantage hatte die Familie ein gutes Leben und war zufrieden, trotz der Kriegssituation. Dann kam der Zeitpunkt, dass beide älteren Söhne sich zum Militärdienst melden sollten. Zuerst der Ältere, ein Jahr später der Jüngere.
Der Krieg verschlimmerte sich und das Kampfgebiet verbreiterte sich von Tag zu Tag. In kurzer Zeit erreichte der Krieg die Nähe der Gegend um die Obstplantagen.
Nach einem heftigen Kampf, der mehr als zehn Tage und Nächte dauerte, hatten die Allierten die Việt Cộng in die Enge gedrängt. Als die Việt Cộng mehr als zehn Tage und Nächte auf fast verlorenem Posten gekämpft hatten und immer wieder von der Armee der Allierten bis in die Nähe der Obstplantagen zurückgedrängt wurden, nahmen die Việt Cộng dann schnell die Obstplantagen ein, nahmen die Bauern und Bewohner der Gegend als Geiseln und die Obstplantagen als Schutzort.
Mit den Obstplantagen hatten die Việt Cộng den Vorteil auf ihrer Seite. Sie konnten die Methode des Partisanenkrieges führen, was sie am besten beherrschten. Sie griffen immer blitzschnell und überraschend in der Nacht die Armee der Alliierten an und zogen sich genauso blitzschnell wieder mit wenigen Verlusten zurück. Dagegen konnten die Alliierten nur verteidigen und es gab unter ihnen viele Tote und zahlreiche Verletzte.
Mit Verstärkung drängten die Alliierten in die Gegend der Obstplantagen hinein. Ein heftiger Kampf führte dazu, dass nicht nur Soldaten von beiden Seiten, Alliierte und Việt Cộng, getötet, sondern auch zahlreiche Bauern der Obstplantagen und Bewohner der Gegend zu Opfern wurden. Sie waren von den Việt Cộng als Schutzschild benutzt worden, dadurch waren auch die älteste Tochter und der jüngste Sohn des Ehepaares Sáu gestorben. Die Gegend und die Obstplantagen wurden auch durch Raketen von beiden Kriegsparteien total zerstört.
Die Bauern und die Bewohner der Gegend wurden fast alle seelisch traumatisiert. Der verletzte Onkel Sáu konnte das Schicksal nicht überstehen und wurde dauerhaft krank. Tante Sáu musste sich um den ganzen Unterhalt für die Familie mit Hilfe der noch lebenden jüngsten Tochter kümmern, indem sie verschiedene Arten von Süßigkeiten herstellten und auf dem Markt verkauften.
Nach zwei Jahren, im Jahr 1973, hatte sich die Familie von Tante Sáu langsam an das tägliche Leben in Saigon gewöhnt, trotzdem es nicht einfach war. Aber das Drama des Krieges hatten sie immer noch nicht aufgearbeitet. Es kam dann ein Schock für die Familie: Sie bekamen Nachricht von der Behörde, dass die Armeeeinheit des Sohnes, des ältesten, von hunderten Raketen der Angreifer komplett vernichtet wurde. Der Sohn war bei der Verteidigung seines Landes Südvietnam gefallen. Das Ehepaar Sáu hatte nur noch die Hoffnung, dass der zweite Sohn von der Kriegsfront gesund zurückkommen würde.
Anfang des Jahres 1975 hatte der Agressor, das kommunistische Vietnam des Nordens, nach und nach auch Provinzen und Gegenden im Norden von Südvietnam eingenommen. Die noch überlebenden Soldaten und Zivilisten flüchteten in Richtung Süden.
Die Nachricht von überlebenden Soldaten, die von der Kriegsfront zu ihren Familien zurückkamen, weckte im Ehepaar Sáu die Hoffnung, dass auch sie ihren Sohn bald wiedersehen könnten.
Am 30.04.1975 hatten die Armee des kommunistischen Nordvietnam und die Việt Cộng fast zwanzig Jahre nach dem ersten Überfall Südvietnam besiegt. Sie marschierten mit russischen Panzern ein, in die Hauptstadt des Südens, Saigon, unter "freiwilligem Jubel" der Bevölkerung. Sie erklärten die Einigung Vietnams unter dem kommunistischen System. Zu diesem Zeitpunkt musste die Bevölkerung Südvietnams glauben, dass die noch nicht zurückgekehrten Soldaten von Südvietnam, entweder nicht mehr am Leben oder in der Gefangenschaft der Kommunisten waren.
Das Ehepaar Sáu wollte nicht glauben, dass ihr Sohn gefallen war. Sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er noch lebte. Trotzdem trauerten sie um den Sohn!
Erst hatten sie die ältere Tochter, den jüngsten Sohn und ihre Obstplantage verloren, dann den ältesten Sohn, dann den zweit-ältesten Sohn, der auch im Krieg gefallen war. Onkel Sáu hatte seinen Geist nicht mehr unter Kontrolle. Er war stark traumatisiert. Er lief oft mehrere Male am Tag, sogar in der Nacht auf die Straße und beschimpfte das neue Regime als Mörder, die für ihn am Tod seiner Kinder veranwortlich waren! Er war für die neue Regierung ein Dorn im Auge.

"Ihr seid Mörder . . . . . ihr habt meine Kinder umgebracht . . . ihr Mörder" "Ihr Mörder . . . . . Mörder . . . . 'Befreiung' . . . .wen befreit ihr? Ich brauche eure 'Befreiung' nicht. Wir alle hier im Süden brauchen eure 'Befreiung' nicht . . . . . Mörder." Oder "Die Mörder, die sollten da drüben bleiben, im Norden, hinter dem 17. Breitengrad . . . . . . . von mir aus sollen sie ihr idealistisches, kommunistisches Land aufbauen, aber uns im Süden in Ruhe lassen. Wir brauchen eure Befreiung nicht, ihr Kriegsverbrecher!"
Man kann solche wüsten Äußerungen von Leuten wie zum Beispiel Onkel Sáu sehr gut verstehen, weil deren Kinder, Ehemänner, Familien-Väter bei der Verteidigung von den Aggressoren des Nordens getötet wurden:
Weil im Jahr 1954 Vietnam durch die Genfer Konferenz am 17. Breitengrad geteilt wurde, bekamen die Kommunisten den nördlichen Teil des Landes (Nordvietnam) und die Republik den Süden (Südvietnam). Die Regierung und das Volk von Südvietnam planten, dass die Einigung von Nordvietnam und Südvietnam nur mit Diplomatie und durch Volksentscheide in freien Wahlen des ganzen Landes (Nord und Süd) herbeigeführt werden sollte, wie in der Genfer Konferenz für das Jahr 1956 geplant worden war - und keinesfalls durch Maßnahmen wie Krieg, wie das kommunistische Vietnam das plante. Aber bei einer Volksentscheidung durch freie Wahlen hätten die Kommunisten verloren. Denn die meisten Vietnamesen wünschten sich nach der Einigung eine demokratische Republik Vietnam statt eines sozialistischen kommunistischen Vietnams.
Die Kommunisten verweigerten die freie Volksentscheidung und stattdessen hatte Hồ Chí Minh von Norden und seine Việt Cộng-Komplizen im Süden die Republik Vietnam (Südvietnam) sofort angegriffen und den Krieg durchgeführt mit großer Unterstützung der Sowjetunion. China unterstützte das kommunistische Vietnam nur bis 1972. Die Sowjetunion wollte ihr Imperium verbreitern. Südvietnam musste daraufhin sein Land verteidigen. Als die Amerikaner in den Krieg in Südvietnam einstiegen hat das kommunistische Vietnam die Situation ausgenutzt und propagiert, dass sie "Südvietnam vom Aggressor USA 'befreien' wollten".

Propaganda - Eine der Inszenierungen

Ich machte mich auf den Weg, wohin ich vorher schon gehen wollte: Zu den zwei Lagerhäusern der Freunde, um zu sehen was bei denen passiert war. Raus aus der Terrassentür ging ich rechts in Richtung der Kreuzung von zwei Flüssen. Fast am Ende der Uferstraße bin ich, statt weiter unter der Brücke zu gehen, in einen kleinen Gehweg hinein gelaufen. Links vom Gehweg war der Hügel der Brückenrampe, rechts war die Mauer eines großen Lagerhauses, vor der entlang Bäume gepflanzt waren bis zur Kreuzung mit der anderen Uferstraße.
Fast am Ende des Gehweges hörte ich unerwartet eine Stimme von jemandem, gesprochen mit nordvietnamesischem Akzent. Normalerweise waren an diesem ruhigen Ort nur Menschen beim Ein- und Auslagern von Waren für das Lagerhaus zu sehen. Ich war fast geschockt, stand hinter den Bäumen, um zu beobachten was an diesem Ort passieren würde. Ich sah eine Gruppe von elf Soldaten der Armee des Nordens. Sie standen auf dem Platz vor dem Eingangstor des Lagerhauses.
Eine alte, sehr alte große Filmkamera wurde von einem der Soldaten auf der Schulter getragen, also vermutlich war er ein Kameramann! Ein höher-rangiger Soldat, bestimmt der Regisseur, erklärte der Gruppe, was und wie sie zu arbeiten hätten und einer hatte auf seinem Notizblock alles notiert. Ein Soldat trug eine Flagge des kommunistischen Vietnam, er stand bei den sieben anderen Soldaten, die sich gerade umzogen. Sie zogen ihre Uniformen aus, ließen sie auf dem Boden liegen. Dann zogen sie andere Kleidung an. Ich war erstaunt! Was sie anzogen war zerrissen, schmutzig und sie sahen aus wie Bettler! Nein, noch schlimmer als Bettler! Die Bettler, die ich gesehen hatte sahen ganz normal aus. So etwas hatte ich in meinem Leben bis dahin noch nicht gesehen!
Es gab damals im Land auch Leute, die vor jedem Tempeleingang saßen und auf Spenden von Tempelbesuchern warteten. Man nannte sie Bettler! In Wirklichkeit ging es manchen dieser "Bettler" noch besser als den normalen Arbeitern. Die Tempelbesucher wollten viel für den Tempel und auch die "Bettler" spenden, um sich von ihren Sünden zu befreien und dafür zu sorgen, dass es ihnen im nächsten Leben besser gehen würde! Die "Bettler" hatten diesen Glauben bis heute ausgenutzt. In Wirklichkeit gab es auch damals echte Bettler, aber sehr wenige. Die konnten nicht mehr arbeiten gehen, weil sie schon sehr alt waren und sie wollten ihren Kindern nicht zur Last fallen, obwohl ihre Kinder dagegen waren, dass sie sich zum Betteln vor den Tempel setzten. Betteln war für die meisten Asiaten eine Schande! Trotzdem gab es manche Bettler, die einfach nur faul oder Betrüger waren.
Der Kamaramann stand an der einen Seite des Eingangstores zum Lagerhaus und richtete die Kamera auf die andere Seite. Nach einem Signal, rannte der Flaggenträger vor die Kamara, stand am Lagertor, winkte und schrie laut: "Kommt alle schnell hierhin, holt was ihr braucht, ihr seid befreit, nehmt soviel wie ihr braucht. . . . . . Schnell! Schnell!" Die sieben verkleideten Soldaten rannten dann im schnellen Tempo durch das Tor in das Lagerhaus hinein, dann wieder hinaus durch eine kleine abseitige normale Tür neben dem Tor hinter dem Kamaramann. Dann liefen sie sofort wieder vor der Kamera vorbei in das Lagerhaus hinein. Die verkleideten Soldaten rannten also im oben genannten Kreis bestimmt mehr als zwanzig Mal. Dann rannten sie in der umgekehrten Richtung. Also aus dem Tor des Lagerhauses heraus, jeder mit einem Reissack auf der Schulter vor dem Kameramann vorbei, dann rannten sie hinter dem Kameramann wieder durch die kleine Tür in das Lagerhaus und mit dem Reissack wieder vor der Kamera hinaus. Auch diese Runde haben sie mehr als zwanzig Mal gedreht. Während sie rannten riefen die verkleideten Soldaten dauernd: "Nieder mit Agressor Amerika und seiner Marionetten-Regierung, nieder mit dem Kapitalistmus, nieder mit der Ausbeutung, nieder, nieder! . . . . . . . . . Nieder! . . ."
Die Reissäcke, die die verkleideten Soldaten auf den Schultern trugen, waren, wie ich wusste, normalerweise für hundert Kilogramm Reis vorgesehen, aber sie schienen für die Soldaten sehr leicht zu sein. Ein normaler Warenträger müsste langsam gehen, Schritt für Schritt und vorsichtig sein, aber die Soldaten rannten mit dem Reissack auf der Schullter, als würde er nicht mal zehn Kilogramm wiegen. Eine billige Täuschung, eine Mogelpackung, dachte ich. Mir war dann auch schnell klar, das das bestimmt eine Inszenierung für eine Dokumentation oder einen Bericht über die "Befreiung" von Menschen aus der "Sklaverei unter dem Agressor USA und seiner Marionetten-Regierung, der Republik Vietnam (Südvietnam)" sein sollte. So behauptete es das kommunistische Vietnam immer in seiner Propaganda. Ich bekam plötzlich eine Gänsehaut und wollte sofort den Ort verlassen bevor man mich entdeckte. Ich drehte mich um, versuchte normal zu gehen, damit ich mich nicht verdächtig machte, aber meine Beine waren irgendwie verkrampft, ich konnte sie nicht so bewegen wie ich wollte. Ich musste vorsichtig sein und aufpassen, dass ich nicht an die Äste der Bäume stieß. Die Geräusche hätten die Soldaten auf mich aufmerksam gemacht.
Endlich hatte ich zwei Drittel des Weges vorsichtig gehend geschafft. Durch eine automatische Reaktion konnte ich plötzlich schnell weiter gehen bis zu der Uferstraße, in die ich vorher in den Weg hineingegangen war. Ich ging in die Richtung zu unserem Haus zurück, aber nur bis zur Hauptstraße des Ortes und bog dort links ab. An der nächsten Kreuzung ging ich wieder links zur anderen Uferstraße, wo unter anderem auch die Lagerhäuser der zwei Freunde an beiden Seiten des Flussufers lagen. Ich sah dann schon in einem fernen Abstand, dass vor einem der Lagerhäuser ein Konvoi von LKWs der Amee des Nordens stand. Dort wurden gerade Güter aus dem Lagerhaus in die LKWs umgeladen. Die wurden bestimmt in den Norden transportiert . . . . . . es ist besser, dort nicht hinzugehen, dachte ich. Von der Fußgängerbrücke aus, die zur anderen Seite der Uferstraße führte, sah ich, dass auch alle anderen Lagerhäuser von den Soldaten des Regimes überwacht wurden!
Was passierte mit den Freunden und deren Familien? Ich machte mir diese Gedanken, als ich auf dem Weg nach Hause war. Auf der Hauptstraße des Ortes, sah ich die Bewohner und deren Nachbarn vor ihren Haustüren diskutieren, darunter auch der Inhaber des Reinigungsgeschäftes, das schon einen Tag nach dem 30.04. dicht gemacht hatte, Herrn Vinh. Er hatte mir zugewunken, als er mich sah. Ich ging zu ihm. Herr Vinh zu mir: "Hast Du schön gehört? Alle, alle müssen umerzogen werden, nicht nur die Großen, sondern auch die normalen Soldaten und Beamten." Der Nachbar von ihm mit ganz leisem Ton: "Natürlich! Die Großen wurden schon fast alle abtransportiert. Wohin? Weiß man nicht! Wie und was machen sie mit ihnen? Was glauben sie?! . . . . . . . Alle müssen unter Kontrolle gebracht werden . . . . . . . Auch was man denkt, gerade jetzt in diesem Moment . . . . . Die trauen niemandem!" Der Nachbar war früher auch ein Soldat der ehemaligen Regierung, er machte sich wenig Sorgen um sich, sondern mehr um seine Frau und seine drei kleinen Kinder, wenn er die Familie wieder verlassen müsste. Normalerweise, als ich früher die Kleider abgeholt hatte, hatte ich mich ab und zu mit Herrn Vinh, seiner Frau und deren Tochter ein wenig unterhalten, aber in dem Moment wollte ich nur schnell nach Hause. Ich hatte ein unsicheres Gefühl und wollte mich auf das, was auf uns in den nächsten Tagen noch zukommen würde, in meinen Gedanken vorbereiten.

Wirtschaftliche Enteignung – Das Leben danach

Über Nacht gab es keinen privaten Handel, keine selbständige private Wirtschaft mehr. Alles konnte ab sofort nur noch durch den Staat bezogen werden. Das Wichtigste zum Leben, die Lebensmittel, darüber entschied die Behörde, welche Familie wieviel Menge pro Monat bekommen sollte. Ein Heft musste beim Einkauf zur Kontrolle mitgeführt werden. Es gab wirklich nur Reis in schlechter Qualität und gerade genug nur für eine normale Mahlzeit. Anderes konnte man auf dem "normalen" oder schwarzen Markt bekommen, aber es war sündhaft teuer und unbezahlbar.
Die Bauern konnten eine Menge für den eigenen Bedarf behalten, der Rest musste in guter Qualität sein und an den Staat abgegeben werden. Diese Produkte guter Qualität wurden zum Teil für den Export verarbeitet, zum anderen Teil kam es den Mitgliedern der Partei und Funktionären der Behörden zugute.
Die Menge, die die Bauern behalten durften, konnten sie auf dem "normalen" Markt verkaufen, um mit dem Erlös andere Komsumgüter zu beschaffen, natürlich nur zum offiziellen Preis. Aber die Bauern brachten ihr Eigentum lieber auf den schwarzen Markt, oft ging die Ware durch die Hände vieler schwarzer Zwischenhändler, deswegen war sie dann bis zur Hand des Verbauchers sündhaft teuer und unbezahlbar. Das war dann ganz normal im alltäglichen Leben des Volkes, besonders in den Städten.

Mit halbleerem Magen gingen die Menschen zur Arbeit. Sie mussten nicht nur noch mehr schaffen als früher, sondern hatten auch noch längere Arbeitszeiten . Das Leben war für sie sehr viel schlechter als vor 1975. Vor 1975 hatten die ärmsten Menschen wenigstens ein Dach über dem Kopf, drei gute Mahlzeiten und fast jeden zweiten Tag Fleisch oder Fisch.
Die kommunistischen Parteimitglieder und Funktionäre hatten nun mehr als genug zum Leben. Sie brachten sogar ihren Anteil an Fleisch und Gemüse und andere Konsumartikel, die für sie überflüssig waren, auf den schwarzen Markt, natürlich anonym. Durch die sogenannten "Ba Mươi Tháng Tư /30.April" brachten die Funktionäre die Waren über schwarze Zwischenhändler auf den Schwarzmarkt unter das Volk.

Die "Ba Mươi Tháng Tư /30.4.", die Diener des Siegers

Die "30.04." waren Leute, die noch vor dem 30.4.1975 normale Bürger wie andere auch waren. An ihren eigenen Vorteil denkend, drehten sie sich nach dem 30.4.1975 plötzlich wie das Fähnchen im Wind und sie stellten sie sich selbst den Funktionären der kommunistischen Partei und den Behörden zur Verfügung. Bei vielen von ihnen sah man, dass sie vor den Funktionären nur eine gebeugte Haltung einnahmen und von ihnen hörte man auch nur: "Ja! Ja! Ja!" oder "Ja! Ich höre!" oder "Ja! Ja! Sofort!" wenn sie den Funktionär trafen. Gegenüber dem normalen Volk waren die "30.04." überheblich, arrogant und sprachen oft mit einem abfälligen Ton. Man nannte diese Leute: "Schnüffelnde Hunde des Funktionärs". Aber . . . . . . den "30.04." ging es gut und sie hatten mehr zum Leben.
Man sollte den "30.04." gegenüber auch "Achtung" haben, denn sie hatten auch Macht, eine unsichtbare Macht. Sie führten die Leute zu allen möglichen und unnotwendigen , sogenannten öffenlichen sozialen Arbeiten an den freien Tagen und konnten jederzeit ihre "Beobachtungen" über jeden Teilnehmer an die Behörden oder Arbeitseinheiten weitertratschen. Dadurch wurden auch schon Personen aus privater Rache von den Behörden oder der Polizei "zum Interview eingeladen". Es kam auch dazu, dass diese Personen durch "Hilfe" der Behörden an der "Umerziehung" teilnehmen "durften".

Es gab auch einen großen Geldumtausch. Gleichgültig wieviele Personen in der Familie waren, jede Familie konnte nur eine gleiche Summe von Geld gegen die neue Währung umtauschen. Der Rest des Geldes des alten Regierungssystems war dann sofort wertlos. "Innerhalb des Volkes sind alle Familien gleich reich im Sinne der Gleichberechtigung."
Nach und nach mussten wir, wie viele andere Familien auch, die vor dem 30.4.1975 Ersparnisse in Gold, Schmuck oder US-Dollar hatten, diese aus den Verstecken holen und auf dem schwarzen Markt verkaufen um zu überleben.
Man musste eine Kontaktperson kennen, die Kontakt mit einem "30.04." hatte. Dieser Person gaben wir die Wertsachen und der sollte diese dem "30.04." übergeben und "jemandem" anbieten, das konnten nur Parteimitglieder und Behördenangehörige der neuen Regierung sein. Es dauerte normalerweise ein paar Tage, dann brachte die Kontaktperson uns die erzielte Geldsumme. Der Verkaufspreis war nicht mal 10% des Originalpreises von vor dem 30.4.1975.
Bei diesen schwarzen Geschäften hat man den ausführenden "30.04." nie zu Gesicht bekommen, er war immer anonym. Die Käufer auch, das waren natürlich die Funktionäre, die durch den Schwarzmarkt reich geworden waren und jetzt häuften sie noch mehr Gold, Schmuck und US-Dollar für sich an. Diese Wertsachen hatten sie zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen. Es konnte passieren, dass die Kontaktperson nie mehr auftauchte oder dann abstritt Wertsachen erhalten zu haben.
Die Menschen, die vor dem 30.4.1975 kein Gold, Schmuck oder US-Dollar beiseite geschafft hatten, hatten nichts mehr zum Leben. Durch Unterernährung, Dauerstress, Anspannung und sogar Angst gab es Leute, die sich selbst das Leben genommen hatten.

Unter der Herrschaft der Kriegsverbrecher

Nachdem die Kommunisten die Südvietnam besiegt hatten, hatte sich für die sogenannten "Ba Mươi Tháng Tư /30.April", ein Herrscher gefunden, dem sie gerne dienten. Die "Ba Mươi Tháng Tư /30.April" fühlten sich wie ein Drachen im Aufwind. Die meisten anderen Menschen wurden vom neuen Regime in eine elende Lage gebracht.
In der schlimmsten und grausamsten Lage waren die ehemaligen Regierungsmitglieder, höhere Beamte, höchste und mittelrangige Armee-Offiziere, Soldaten der Sondereinheiten, Intellektuelle, Personen der Gemeinschaft die gegen das kommunistische System waren, Personen des ehemaligen Südvietnam mit wichtiger Funktion, sowie die großen Wirtschaftsbetreiber und Reichtumsbesitzer. Auch Mönche , Priester und Nonnen, die sich vor dem 30.4.1975 geweigert hatten mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten oder die sich am 30.4.1975 in Tempeln und christlichen Kirchen weigerten Portraits von Ho Chi Minh auf den Hauptaltar vor den Heiligen hinzustellen. Alle oben genannten Menschen sind aus unerfindlichen Gründen noch in Vietnam geblieben oder hatten die Möglichkeit zur Flucht ins Ausland verpasst. Diese Leute, darunter waren auch Frauen, mussten sofort entweder in die so genannten "Umerziehungslager" im Norden Vietnams (für die Menschen aus dem Süden war das sehr ungewöhnliche Klima schwer zu ertragen) oder weit weg von ihrem Wohnort , an einen Ort . . . . , ein Gefängnis. Die Verwandten wussten nicht, wo sie waren. Den Verwandten dieser Menschen wurde sowieso all ihr Privatbesitz beschlagnahmt und sie wurden in die "Vùng Kinh Tế Mới /Neue Wirtschaftsgebiete" abgeschoben und danach meist nie wieder gesehen.
Aus den Umerziehungslagern war fast keiner zurückgekehrt. Heute kann man im Internet erfahren, von einem kleinen Teil, der nach Jahrzehnten freigelassen wurde. Sie berichten, dass das in Wirklichkeit Gefängnisse mit brutalen Foltermethoden waren und sie nichts mit Umerziehung zu tun hatten. Der große Teil wurde bis zum Tod gefoltert, darunter auch viele Frauen, Mönche, christliche Priester und Nonnen. Die die Folter überlebten ließ man nach der Folter verhungern oder wenn derjenige schwer krank war, ließ man ihn einfach im Wald oder im Fluß liegen.
Man hat erforscht, dass die Foltermethoden der Kommunisten Vietnams aus der Sowjetunion in der Zeit von Stalin stammten. Der kleine Teil der Personen, die nach Jahrzehnten entlassen wurden, kam zurück an ihren alten Wohnort. Meistens konnten sie ihre Verwandten dort nicht mehr finden, auch nicht in den "neuen Wirtschaftszonen". Sie litten ihr Leben lang an den Gesundheitsschäden durch die Folter und waren psychisch traumatisiert.

Die Bevölkerung musste ihr Eigentum auflisten, besonders die Reichen. Es wurde gesagt, dass das nur für die statistische Nutzung erhoben würde, ihr Vermögen würden die Leute dann weiter privat besitzen dürfen.
Mein Vater hatte aber aufgrund von fehlendem Vertrauen in das neue Regime und den Geschehnissen im kommunistischen Nordvietnam nach der französischen Kolonialzeit, unsere Speditionsschiffe "freiwillig" der neuen Regierung übergeben, damit die Familie einem schlimmen Schicksal entkommen könnte. Als er das getan hatte und nach Hause kam, sah ich meinen Vater die Tränen unterdrücken und er sagte: "Es liegt eine sehr harte Zeit zum Leben vor uns!" Das Haus, in dem wir schon lange wohnten, haben wir vielleicht auch deswegen noch weiter bewohnen dürfen.
Einige Zeit später sind die Leute, die ihr Eigentum immer noch für sich beanspruchten ,über Nacht spurlos verschwunden oder wurden in das sogenannte "Vùng Kinh Tế Mới /Neues Wirtschaftsgebiet" mit leeren Händen abgeschoben.
Monate später war es einigen gelungen aus dem "Vùng Kinh Tế Mới /Neues Wirtschaftsgebiet" nach Saigon zurückzuflüchten. Sie mussten sich tagsüber verstecken und nachts als Bettler leben. Sie erzählten, dass man in dem Gebiet schwierig überleben und nur auf den Tod warten konnte. Mit bloßen Händen hatten die Abgeschobenen dort überall im Boden gegraben, aber es gab fast kein Trinkwasser in den sogenannten "Vùng Kinh Tế Mới /Neues Wirtschaftsgebiet" sondern fast nur salziges Wasser. Viele Leute, die vorher fast keine Erfahrung mit schwerer körperlicher Arbeit hatten, bei denen ging es schnell, sie wurden zu schwach und starben schon innerhalb von ein paar Wochen.

Jahre später wurde auch unser Haus doch noch vom Regime beschlagnahmt. Aus welchen Gründen wissen wir nicht, man hatte es uns nicht erklärt. Ein Haus voller schöner Erinnerungen von mir und meinen Geschwistern in der Jugendzeit. Ein Haus mit dem glühendroten "纸花 (zhi hua)/Hoa Giấy / Papierblumenbaum" auf der Eingangsterrasse.
Später, als ich in Deutschland lebte, jedesmal wenn ich auf Reisen war, irgendwo, immer wenn ich so einen Baum sehe, erinnere ich mich immer wieder an unser Haus, . . . . . . . . . damals . . . . . . eine schöne Zeit . . . . . . . und habe dann ein trauriges Gefühl.

Natürlich mussten sich auch alle Unteroffiziere, kleine Beamten, Verwaltungsarbeiter, normale Soldaten des ehemaligen Südvietnam, die noch in Vietnam geblieben waren, auf Befehl der neuen Regierung nach dem 30.04.1975 bei den Behörden melden und dann umerzogen werden.

Meine drei Brüder und ich waren Unteroffiziere und Soldaten und mussten natürlich auch umerzogen werden. Meine Schwester, die Medizin studierte hatte, und mein jüngerer Bruder, der Schüler war, wurden als "kleine Kapitalisten" eingestuft und mussten sich den Beamten anschließen und unter ihrer Anweisung "arbeiten" , um den "Wert" von Arbeit anzuerkennen. Natürlich ohne Lohn. Die Leute "sollten froh sein", dass sie nicht in einem Straflager sitzen, wie manch andere, bei denen die Behörden geurteilt hatten, dass sie Ihre Arbeit nicht mit voller Arbeitskraft geleistet hätten.
Mein Vater sollte auch für die Flussspeditionsfirma der Stadt Hồ Chí Minh arbeiten, aber mein Vater war "geistig nicht mehr normal" und damit untauglich. Nach der Umerziehung mussten meine Brüder und ich auch den "Wert der Arbeit" anerkennen. Ich musste die Position meines Vaters annehmen, um meinen Vater zu ersetzen, im Büro als zweiter Abteilungschef des Handelsverkehrs! In Wirklichkeit wollten sie, dass man denen zeigt, wie alles organisiert war und zugleich wollten sie die Leute nach der Umerziehung beobachten. Genauso, wie andere Menschen in unserer Situation, die in Firmen, Konzernen und Fabriken arbeiteten, unter der Kontrolle und Beobachtung der vietnamesischen, kommunistischen Partei und deren Regierung.
Wir standen unter ständiger Beobachtung und Gedankenkontrolle. Es war eine Zeit, in der ich alle Gefühle und Gedanken nach innen kehren musste. Jedes Wort, jede Bewegung musste ich selber streng kontrollieren. Dann wurde ich parallel auch als Zeichner von Propaganda-Plakaten "gefördert". Man versuchte meine inneren Gedanken zu lesen, indem ich für die Propaganda-Wandzeitung mitarbeiten musste. Als Tageshonorar erhielten wir als Arbeitsanerkennung mit voller Absicht noch nicht einmal den "Wert" eines Frühstückes in einem staatlichen Restaurant, um herauszufinden, ob wir noch andere finanzielle Reserven von früher hätten.

Die Entscheidung

Im Jahr 1978, drei Jahre nachdem das kommunistische Regime ganz Vietnam regierte, hatten meine älteren Brüder sich mental immer noch nicht an die neue Lebenssituation anpassen können. Inbesondere mein ältester Bruder, er machte meinen Eltern viele Sorgen, weil er seine Meinung äußerte und sich nicht unter Kontrolle bringen konnte und diese Meinung sogar in seiner Arbeitstelle geäußert hatte. Man merkte, dass er nicht nur bei der Arbeit überwacht wurde, sondern auch nach seiner Arbeitszeit.
Normalerweise sollten Leute wie wir, Reue zeigen für das, was und wie wir vor dem 30.4.1975 getan und gelebt hatten. Und in der Zeit des neuen Regimes sollten wir diesem gegenüber nach Möglichkeit gehorsam sein und Wiedergutmachung leisten.
Wir fürchteten, dass man irgendwann meine ältesten Brüder verhaften würde. Schlimm war, dass das die ganze Familie mit hineinziehen würde und die Familie womöglich in das "Vùng Kinh Tế Mới /Neues Wirtschaftsgebiet" abgeschoben werden könnte. Es gab nur eine Möglichkeit: Dass die älteren Brüder weggingen aus Vietnam, um ein schlimmes Schicksal für sie und die Familie zu vermeiden.

Eine geheime Fluchtorganisation hatte über einen Vertrauten Kontakt zu meinem Vater aufgenommen. Er half mit seinem technischen Wissen dabei, ein altes Boot an einem geheimen Ort zu reparieren und aufzubauen. Von diesem wussten aber aus Sicherheitsgründen zuerst nur mein Vater und dann meine Mutter. Ein paar Monate später sollten meine beiden älteren Brüder, meine zwei jüngeren Brüder (einer davon Schiffsmechaniker) und ich an den geheimen Ort gehen und dort auf den richtigen Zeitpunkt warten, um dann abzufahren. Ich wollte nicht mitgehen, weil ich meine Eltern und die anderen Geschwister nicht in dieser Situation allein lassen konnte. Mein Platz wurde also an meine Schwägerin und meinen Neffen übergeben. Nur mein Vater hat die Familienmitglieder zu dem geheimen Ort begleitet, um dann alleine wieder nach Hause zurückzukehren.
Ein paar Tage später, als ich von der Arbeitseinheit zurückkehrte, erfuhr ich von meiner Mutter, dass mein Vater zu dem geheimen Ort gegangen war, um die Familienmitglieder endgültig zu verabschieden, bevor das Boot losfuhr. Als es ganz dunkel war, kam mein Vater dann in trauriger Stimmung nach Hause zurück. Als mein Vater meine Mutter und mich wiedersah, hat er nur ganz kurz zu uns gesagt: "Sie sind weg!"
Jahre später hat mein älterer Bruder mir erzählt, dass es beim Abschied sehr still war und mein Vater, meine Brüder und die anderen Familienmitglieder kein Wort gesprochen haben. Als das Boot losfuhr, sah er trotz der Dunkelheit, dass meinem Vater am Ufer die Tränen herunterliefen und alle waren sehr traurig.

Ich glaube heute immer noch, dass ich richtig entschieden habe, zu dem Zeitpunkt nicht mit meinen Brüdern zusammen zu flüchten. Auch wenn mir die Flucht gelungen wäre, wäre ich unglücklich geworden, weil ich mir dann immer Sorgen um die zurückgebliebene Familie gemacht hätte.

Mein Vater verfolgte danach täglich die Nachrichten im Radio von morgens früh bis spät in die Nacht. Die Nachrichten von Menschen, die bei der Fluchtorganisation entdeckt und verhaftet wurden, machten uns sehr traurig. Genauso wie die Nachrichten von den Menschen, die auf dem Landweg Vietnam verlassen wollten und scheiterten. Insbesondere machten wir uns viel Sorgen, wenn es Nachrichten von Fluchtversuchen mit dem Boot auf dem Seeweg gab, die vom Regime entdeckt wurden und die Menschen auch wie die anderen im Gefängnis landeten.
Wir wussten nicht, ob meine Brüder, die Schwägerin und der Neffe zu der Zeit im Gefängnis saßen oder ob das Boot schon über die Seegrenze von Vietnam gefahren war! Wir waren angespannt und machten uns große Sorgen.
Die Polizei, die sogenannte "Công An /Öffenliche friedliche Ordnung" des neuen Regimes des Ortes kam uns regelmäßig "besuchen", und der "betreuende Polizist" sowieso. Sie wollten sich von meiner Mutter informieren lassen, welche Neuigkeiten es unter den Leuten gab, denn meine Mutter war - unfreiwillig natürlich - einer von vielen Gruppenvorständen. Wenn sie irgendwann die unangemeldete Abwesenheit der Familienmitglieder entdecken würden, dann wäre die ganze Familie in einer gefährlichen Notlage. Das bedeutet, dass meine Eltern im Gefängnis landen könnten oder die ganze Familie in das "Neue Wirtschaftsgebiet" abgeschoben werden könnte. Denn seitdem das neue Regime die Macht übernommen hatte, musste jeder sich beim Verlassen und bei der Rückkehr zu seinem Wohnort bei der Behörde melden. Ebenso musste man sich bei Ankunft und Verlassen des Zielortes bei der dortigen Behörde melden.
Zwei meiner Brüder, die mitgeflohen waren, waren normalerweise mit ihrer Arbeitseinheit auf den Schiffen in der südlichen Provinz stationiert. Dadurch konnten wir nun erzählen, dass die Schiffe sich zur Zeit nicht in Hồ Chí Minh Stadt (Saigon) befinden würden. Aber mein ältester Bruder, die Schwägerin, der Neffe und mein jüngster Bruder, die waren normalerweise ständig täglich zu sehen, beim morgendlichen Gang zur Arbeit bzw. Schule und besonders abends im Kreis der Familie. . . . . . . . . . . .wie sollten wir das erklären!? Meine Eltern und ich wussten nicht, was und wie wir etwas unternehmen sollten.

In auswegloser Situation

Die Nachbarin neben uns - Frau des Polizisten der ehemaligen Regierung - kam nach dem 30.04.1975 wie immer ab und zu zu uns, inbesondere nachdem ihr Mann von der "Umerziehungsmaßnahme" des neuen Regimes zurückkam. Danach kam sie noch öfter. Wir Kinder riefen sie nun "Tante Năm", weil ihr Mann Năm hieß. Sie schien uns zu vertrauen, vielleicht weil die anderen Leute, die ihre Familie kannten, fast alle den Kontakt mit der Familie abgebrochen hatten. Vielleicht war auch ein Grund, weil Herr Năm ein Ex-Polizist der alten Regierung war und die Leute nun Angst hatten, dass man vielleicht wegen des Kontaktes ein Problem bekommen könnte.
Tante Năm erzählte, klagte über das Schicksal ihrer Familie: Ihr Mann wurde von den Behörden nach und nach zu Arbeitslagereinheiten geschickt, wo es nur schwere körperliche Arbeiten zu erledigen gab. Wie viele Ex-Kollegen musste Herr Năm mehr als sechzehn Stunden am Tag arbeiten und bekam dafür nur ein kleines mageres Mittagessen - sonst nichts - obwohl diese Polizisten von der ehemaligen Regierung nur für die Verkehrsordnung, das Ausstellen von Strafzetteln und das Kassieren zuständig waren. Auf der einen Seite war er froh, weil es gab viele andere Polizisten, die genau wie er überhaupt nicht mit den Kommunisten in Berührung gekommen waren, trotzdem wurden sie zusammen mit den Hauptfeinden des kommunistischen Regimes schon am ersten Tag, dem 30.4.1975, sofort verhaftet, zum Umerziehungslager irgendwohin transportiert und man hörte nichts mehr von ihnen. Denn Polizisten waren vor dem 30.4.1975 im ehemaligen Südvietnam die Hauptfeinde der kommunistischen Spione.
Die vier Kinder der Famillie Năm hatten, wie andere "aussortierte" Kinder, keinen Platz in der Schule. Diese Kinder kämpften auf den Straßen um das tägliche Überleben. Tante Năm: "Meine Kinder brauchen keine Schule mehr. Es reicht, wenn ich und mein Mann den Kindern lesen und schreiben beibringen . . . . . . . Bei der Umerziehung hatte mein Mann schon genug von deren Erziehungsmethoden durchgemacht . . . . . . . . . nicht auch noch mit unseren Kindern . . . . ." Auf der andere Seite: Wenn Eltern ihre Kinder ohne Grund nicht zur Schule schickten, dann wurden sie als Gegner des neuen Regimes betrachtet.
Tante Năms älteste Tochter war gerade fünfzehn, der ältere Sohn dreizehn Jahre alt. Wie manche anderen Kinder in ihrem Alter, halfen die beiden bei den alten Bauern aus, die meist schon über siebzig Jahre alt waren und deren Söhne sich für die Verteidigung von Südvietnam geopfert hatten und deren Töchter schon aus dem Haus geheiratet waren. Die beiden Kinder halfen bei schweren Arbeiten bei der Ernte und auf dem Markt. Sie bekamen ein paar Stücke Kleingeld und aussortiertes Gemüse als Tageslohn. Mehr konnten sich die Bauern nicht leisten, denn sie mussten den Großteil der Ernte an den Staat abführen und konnten für sich nur ein wenig einbehalten. Damit verstießen diese Bauern natürlich gegen das System des neuen Regimes, weil sie als privates Unternehmen betrachtet wurden. Die Helfer machten sich dadurch natürlich auch mit schuldig. Aber mit den Helfern konnten die Bauern die "30.04." mit ein wenig Geld bestechen, damit war dann "alles in Ordnung", wenn die Summe den "30.04." zufriedenstellte!

Am großen Schiffshafen von Saigon herrschte seit Anfang Mai 1975 wieder Hochbetrieb. Die Schiffe warteten jeden Tag in einer kilometerlangen Warteschlange und ankerten in drei Reihen nebeneinander, um Güter einzuladen und nach Norden hinter den 17. Breitengrad zu transportieren. Güter wie neue oder gebrauchte Autos, Motorräder, Fahrräder, Tonbandgeräte von z.B. Aikai, Radios, Schallplattenspieler, Möbel, Kinderspielzeug und unzählige andere Güter. Die LKWs und Autos mit den Gütern, die nach Norden per Schiff transportiert werden sollten, standen auf den Zufahrtsstraßen zum großen Schiffshafen ständig im Stau.
Vor allen Lagerhäusern der Stadt waren auch ständig Konvois mit LKWs der "Befreiungs-Armee" oder Gütertransportschiffe am Fluß zu sehen. Die begehrten Güter des ehemaligen Südvietnam, vom Spiritus-Kochherd, über Porzellanwaren, bis hin zu Essstäbchen und . . .und . . . und . . . . Lebensmitteln aus den Lagerhäusern, inbesondere die importierten aus den kapitalistischen Ländern, wurden nach und nach geplündert. Fast alles wurde von der "Befreiungs-Armee" auch nach Norden, hinter den 17. Breitengrad transportiert, inklusive täglich frischem Gemüse und Fleisch, um den Hunger der elenden Leute dort zu stillen. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist, was die Menschen gesehen haben, das was das kommunistische Vietnam nach der sogenannten "Befreiung" des ehemaligen Südvietnam angetan hatte, niemand kann das mehr verleugnen. Das Gegenteil von dem, was das kommunistische Vietnam damals immer propagierte: Es behauptete, dass die Bevölkerung unter ihrem System satt, gesund und glücklich war.

Auf dem Weg vom Lagerhaus zum Armee-LKW oder zum Gütertransportschiff benutzten die Reisträger einen Haken, um den hundert Kilogramm schweren Reissack auf der Schulter festhalten zu können. Dadurch fielen aus dem Hakenloch des Sackes immer ein paar Reiskörner auf den Boden. Die junge elfjährige Tochter und der junge neunjährige Sohn von Tante Năm sammelten mit anderen Kindern täglich Reiskörner von der Straße vor den Lagerhäusern. Diese Kinder hatten alle dasselbe Schicksal, sie durften nicht zur Schule gehen, weil deren Eltern Arbeiter in der Verwaltung der ehemaligen Republik Vietnam (Südvietnam) waren, oder als Soldaten und Polizisten gedient hatten, obwohl sie in ihrer Tätigkeit nur niedrige Ränge eingenommen hatten. Die Kinder der Offiziere und höheren Beamten der ehemaligen Republik Vietnam (Südvietnam), sowie von Regierungsmitgliedern wurden natürlich schon nach dem 30.4.1975 in eines der neuen "Wirtschaftsgebiete" mit einem Elternteil abgeschoben, weil das andere Elternteil im "Umerziehungslager" verbannt war oder sie wurden mit ihren Familien zusammen in ein Gefängnis gesteckt.
Meine jüngste Schwester und mein jüngster Bruder "durften" die Schule besuchen, weil meine Eltern zu der ehemaligen Regierung keine besondere Verbindung hatten. Der Schulbesuch war für die beiden sogar ein Muss, sonst wurden sie als Konterrevolutionäre betrachtet.
Die Kinder, die keinen Platz in der Schule hatten sammelten täglich Reiskörner von der Straße vor den Lagerhäusern, bevor die Soldaten der sogenannten "Befreiungs-Armee" sie zusammenkehren konnten. Die Kinder wurden oft von den Soldaten und den Polizisten weggejagt und als Diebe beschimpft. Obwohl die Reiskörner auf der Straße lagen, gehörten sie auch seit dem 30.04.1975 als Kriegsbeute dem neuen Regime aus dem Norden.

Die Wahrheit über die "Befreiung"

Heutzutage - 2018 - kann man auch schon im Internet von den ehemaligen Soldaten der kommunistischen "Befreiungsarmee" und auch den so genannten "Anh lính cụ Hồ / der Soldat von Opa Hồ" die Wahrheit erfahren: Nämlich, dass die kommunistische Partei Vietnams damals Jugendliche schon ab 12 Jahren für Opa Hồ in den Kriegsdienst gestellt hat, um Südvietnam anzugreifen und damit ihre Macht auf ganz Vietnam und Südostasien zu verbreiten und zu sichern. "Befreiung" war für den Süden nicht notwendig, meinen die Zeitzeugen aus Nordvietnam, sondern der Süden befreite den Norden von der Armut, als Nordvietnam den Krieg gewann.
Am 30.04.1975 marschierten die "Soldaten des Opa Hồ" mit Begeisterung in Südvietnam und ohne Widerstand ein, weil die amerikanischen Armeeeinheiten und die westlichen Verbündeten sich gemäß des Pariser Abkommens aus dem Jahr 1973 in ihr Land zurückgezogen hatten. Seitdem bekam Südvietnam von den Amerikanern keine Unterstützung mehr, auch nicht in Form von Waffen und Munition. Die Zeitzeugen fanden heraus, dass ihre kommunistische Partei und deren Regime sie schon von Anfang an belogen und betrogen hatte und dadurch alle Jungen, Mädchen, Männer und Frauen umsonst ihre Lebens- oder Jugendzeit nur für die Macht und Gier des vietnamesischen, kommunistischen Regime geopfert hatten. Eine Einigung des Landes hätte man auch auf diplomatischen Weg aushandeln können, meinen die Zeitzeugen. In Südvietnam hatte nämlich in der Zeit schon fast die ganze Bevölkerung Wohlstand und meist auch ein glückliches Leben erreicht, trotz des Krieges. Überall, insbesondere in allen großen Städten und der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon, gab es Geschäfte, Einkaufszentren, Läden überfüllt mit allen möglichen Waren des täglichen Gebrauchs und Luxusartikeln. In den Märkten stapelte sich das Gemüse und Obst zu Hügeln, auch Fleischhändler waren dort überall zu sehen. In fast jeder Straße gab es zahlreiche große und kleine Restaurants, Cafés, Bühnenhäuser und Kinos. Überall waren Autos, Motorräder und natürlich auch Fahrräder zu sehen.
Im kommunistischen Nordvietnam dagegen bekam jede Familie laut den Zeitzeugen noch im Jahr 1975 z.B. pro Jahr drei Meter groben Stoff, musste darauf oft monatelang warten und mehr als fünf Stunden lang vor dem Laden anstehen. Kaffee und Zigaretten bekamen sie nur durch gute Beziehungen und wenn sie großes Glück hatten. Wenn, dann höchstens 300 Gramm Kaffee und 200 Gramm Tabak, im Jahr natürlich! Diese Artikel zu genießen war im kommunistischen Nordvietnam ein großer Luxus. Als Kaffeefilter benutzten sie eine alte leere Blechdose mit Löchern und eingelegtem Stoffrest und filterten den Kaffee und tranken davon, bis er keine Farbe mehr abgab. Als sie nach dem "Befreiungssieg" einen Kaffeefilter aus Südvietnam in den Händen hielten, liefen ihnen die Glückstränen die Wangen herunter. Alte Blechdosen wurden für gewöhnlich in Nordvietnam auch als Trinkgefäße benutzt. Es war auch ein Glück, wenn man ein Fahrrad besaß, ein altes natürlich! Auto und Chauffeur bekamen nur höhere Funktionäre und höhere Behördenmitglieder zur Verfügung gestellt.
Es klingt unglaublich aber wahr und man kann es nicht verleugnen, erzählte auch ein ehemaliger "Soldat des Opa Hồ" im Internet: Es gab in Nordvietnam nur einen einzigen Radiosender in Hà Nội, einen staatlichen. Das Programm wurde in ganz Nordvietnam gesendet und war nur durch Straßenlautsprecher zu hören. Niemand besaß ein Radio, außer er war ein höherer Funktionär oder ein höheres Parteimitglied. Es gab nur staatliche "Literatur" und Zeitungen zu lesen, die vom kommunistischen Vietnam mit deren Ideologie und Propaganda gesteuert wurden. Nach dem 30.04.1975 gab es mutige und neugierige "Soldaten des Opa Hồ", die heimlich ein paar Bücher aus Südvietnam in ihre Armee-Rucksäcke gesteckt hatten, anstatt sie zu den Verbrennungsstellen zu bringen. Zurück im Norden, so erzählten sie, wurden diese Bücher heimlich gelesen und sie haben herausgefunden, dass die Literatur des Südens sehr vielseitig war und es dort eine Meinungsfreiheit gab.
Mit dem Kinderspielzeug und dem Goldschmuck den die "Soldaten des Opa Hồ" in Saigon am 30.04.1975 "gefunden" hatten, versetzten sie den ganzen Heimatort im Norden wo sie lebten in Erstaunen und Selbstmitleid zugleich. Jeden Tag bekamen sie dutzende Besuche von Menschen, die das Spielzeug und den Schmuck mit eigenen Augen sehen wollten, denn den Erzählungen hatten sie nicht geglaubt. Bei dem Spielzeug, wie ich es schon Mitte der 1960er Jahre für meine jüngeren Geschwister gekauft hatte, handelte es sich z.B. um eine Puppe, die die Augen zumachte, wenn man sie hinlegte, und die weinte, wenn man sie auf den Bauch drückte. Einen Bären mit Kunstfellhaut, der mit vier beweglichen Beinen wie echt laufen konnte. Einen Hubschrauber, der in der Luft flog usw. Und dann auch noch das Gold, dass die Leute des Nordens noch nicht in ihrem Leben gesehen hatten. Als sie es zu Gesicht bekamen, waren sie erstaunt vor Glück: "Gold . . . . Gold . . . . ist das Gold?" "Wieviel kostet so was? . . . . . gibt es wirklich Goldgeschäfte im Süden, wo man Gold kaufen kann? . . . . . ." "Wozu trägt man Gold . . . . kann Gold Krankheiten heilen?" " Gold . . . Gold . . . ich habe endlich Gold gesehen" . . . . . . usw.
Ein "Soldat des Opa Hồ" erzählte, dass er, als er von Südvietnam zurück in den Norden nach Hause kam, diese Nachricht sich sofort verbreitete und eine Menge Leute zu Besuch kamen, um zu sehen was er mitgebracht hatte. Ein höherer Funktionär der kommunistischen Partei des Ortes war auch mit in der Menge der Leute, wurde aber von den abgelenkten Leuten nicht mehr beachtet. Der Funktionär war sehr wütend und erklärte, das das alles Lügen und falsche Behauptungen wären, weil es im "Regime der Sklaverei" kein Gold unter der Bevölkerung gab und das Kinderspielzeug, die Tonbänder, usw. seien nur billige Tricks wie zu mittelalterlichen Zeiten.
Seit 1975 feiert das kommunistische Vietnam den 30. April als Tag des "đại thắng mùa xuân / großen Siegs des Frühlings" und auch der nationalen Unabhängigkeit. Zu der Gelegenheit hatte man einige junge Generationen, die im ehemaligen Nordvietnam geboren und aufgewachsen waren interviewt. Diese Interviews kann man im Internet sehen. Eine Frage war, was diese Generation über das ehemalige Südvietnam wusste. Die Anwort lautete: "Schon als wir noch Kinder waren, hatten die Lehrer und Lehrerinnen in der Schule uns erzählt, dass unser Volk in Südvietnam unter dem Regime der Sklaverei des Aggressors Amerika und deren vietnamesischen 'Chính Quyền Ngụy / Marionettenregierung' lebte. Sie saugen das Blut und fressen das Fleisch unseres Volkes, inbesondere das von unseren Kindern, weil Kinderfleisch für sie sehr zart ist. Wir müssen unser Volk so schnell wie möglich befreien, wenn wir groß sind. Heute können wir durch das Internet erfahren, dass das ehemalige Südvietnam ein sehr demokratisches Land mit freien Meinungen, ein Land mit vielseitiger Kultur war. Man sieht, dass schon damals Südvietnam ein zivilisiertes Land im Wohlstand war . . . . . . . . . und wenn wir, der Norden, das ehemalige Südvietnam nicht angegriffen, den Krieg nicht gewonnen hätten, bzw. die Kriegsbeute wie z.B. 16 Tonnen Goldbarren von Südvietnam nicht bekommen hätten, dann lebten wir heute noch in Elend und Armut . . . . . . ."
Schon zu früheren Zeiten und auch heute exportiert das kommunistische Vietnam Arbeitskräfte ins Ausland. Die Leute, die im ehemaligen kommunistischen Nordvietnam gelebt hatten, erzählten, dass wenn sie damals durch Beziehung und Bestechung als Arbeitskraft in die damalige Deutsche Demokratische Republik (DDR) exportiert wurden, sie auch sehr glücklich waren. Obwohl sie nur einen Bruchteil von ihrer Regierung bezahlt bekamen, im Vergleich zu dem, was die DDR an das Regime des kommunistischen Nordvietnam zahlte. Denn die DDR war für sie schon ein Paradies. Trotz langer Schlangen und tagelangem Warten vor den staatlichen Läden haben sie am Ende bekommen, wovon sie in ihrem Land nur träumen konnten.
Eine Schriftstellerin, die Dương Thu Hương heißt, war ein Mitglied der vietnamesischen kommunistischen Partei. Wie viele andere folgte sie dem Ruf von "Opa Hồ" und der vietnamesischen kommunistischen Partei und drängte nach Südvietnam ein, um das Südvietnamesische Volk zu "befreien", wie sie erzählt. Am 30.04.1975, als sie und die "Soldaten des Opa Hồ" der sogenannten "Befreiungsarmee" in Saigon einmarschierten, hatten sie die Wahrheit von Südvietnam mit ihren eigenen Augen gesehen. Jahre später gelang es ihr Vietnam zu verlassen und sie lebt seitdem im Ausland. In einem Interview im Jahre 2006 in New York erzählte sie, wie am 30.04.1975 alle Menschen nach Saigon hineinstürmten. Die Leute aus dem Norden und die Genossen von ihr lachten wie wild und verrückt vor Glück, weil sie den Krieg gewonnen hatten und der Reichtum des Südens nun ihnen gehörte. In der Zeit, als alle anderen Leute vor Glück wie verrückt lachten, hatte sie nur wie verrückt geweint, wie um den Tod ihres Vaters und wurde von allen Leuten für verrückt gehalten.
Die Schriftstellerin: "Die Armee, die den Krieg gewonnen hatte, gehörte zu einem barbarischen System . . . . . . . . ich fühlte, dass ich meine Jugendzeit zu unrecht umsonst verloren hatte und war in einer verwirrten, bitteren Gefühlsstimmung . . . . . . ." Sie findet, dass das kommunistische Regime Nordvietnams ein Regime der Volksverdummung war und dem Volk ein bitteres und elendes Leben gebracht hat. Als sie noch in Vietnam lebte, hatte sie den Mut, die kommunistische Partei und deren Regime zu kritisieren. In einem Interview aus dem Jahr 2016 in Paris, wo sie lebte, erzählte sie, dass sie von den höheren Funktionären der kommunistischen Partei Vietnams und deren Regime beschimpft wurde als "con đỉ / die Nutte", die gegen die (kommunistische) Partei war. Diese Worte (con đỉ / die Nutte) kommen nur aus dem Mund von primitiven Leuten, die unkultiviert sind, Banditen und Zuhältern. Normalerweise, wenn man darüber spricht, dann nutzt man das Wort "gái mải dâm / Prostituierte". Ich bin entsetzt!

Angst, Sorgen und Elend

Es war gerade draußen dunkel geworden, wir waren auch gerade fertig mit dem Abendessen, meine Schwester spülte gerade das Geschirr ab und mein Vater machte das Radio wieder an. Wir alle waren still, nur die Stimme des Nachrichtensprechers im Radio war im Haus zu hören. Der Nachrichtensprecher kam aus dem Norden und sprach mit einem pathetischen Ton. Das war unerträglich.
An dem Tag hatte ich in der Firma erfahren, dass wieder ein Boot versucht hatte über die Seegrenze aus Vietnam zu fahren und es entdeckt wurde. Das beschlagnahmte Boot wurde von meiner Arbeitseinheit, der Flussspeditionsfirma der Stadt, übernommen. Es könnte das Boot gewesen sein, mit dem meine Brüder mitgefahren waren. Ich war den ganzen Tag in der Firma schon sehr unruhig und besorgt zugleich, als ich diese Nachricht bekam, aber meine innerlichen Gefühle sollte keiner bemerken und äußerlich versuchte ich mich ganz normal zu verhalten. Die Funktionäre hatten sich so gefreut, dass die Firma nun noch ein Boot mehr bekam, und man dadurch die Aufgabe der Partei, den Jahrestransportplan, noch früher erreichen konnte. Alle Arbeiter wie ich waren "natürlich auch sehr freudvoll" darüber. . . . . . . Als ich abends meinen Eltern davon erzählte, war die Stimmung im Haus sehr spannungs- und sorgenvoll, inbesondere bei meiner Mutter. Obwohl nur meine Eltern und ich von der Flucht der Familienmitglieder wussten, die anderen Geschwister waren bis zu der Zeit noch nicht eingeweiht.
In diesem angespannten Moment erschien plötzlich jemand vor dem Zaun der Terrasse. Wir waren ein wenig geschockt. Dann . . . . . . . hörten wir jemanden mit einem leisen Ton sprechen: "Große Schwester, große Schwester . . . ." Ich hatte ihre Stimme erkannt und sagte zu meinen Eltern: "Tante Năm". Meine Mutter: "Sie war vorgestern schon bei uns, ob sie schon gemerkt hat, dass . . . . . ." Meine Mutter hatte ein unsicheres Gefühl, weil normalerweise mein jüngster Bruder und der Neffe oft am Abend im Vorzimmer spielten, lachten und manchmal laut waren. Ohne die beiden sah es bei uns so leer aus. Mein Vater: "Lass sie sofort herein, die Leute sollten sie nicht draußen stehen sehen." Als Tante Năm in unser Haus herein kam, hatten wir gemerkt, dass sie spürte, vielleicht schon seit Tagen, dass es bei uns so leer war. Sie versuchte zu verbergen, dass sie etwas bemerkt hatte, aber wir hatten ihre wahren Gefühle in dem Moment schon mitbekommen. Meine Mutter lud Tante Năm auf eine Tasse Tee ein, den wir nach dem Essen noch übrig hatten.
Einen Gast auf eine Tasse Tee einzuladen war nach dem 30.04.1975 nicht mehr selbstverständlich. Es gab oft Stromausfall, wer elektrische Kochplatten besaß musste auch Kochherde mit anderen Brennmaterialien benutzen, z.B. Petroleum und Holzkohle, aber die gab es auch nicht so oft auf dem Schwarzmarkt, waren teuer und deshalb konnten sich viele das nicht oft leisten. Viele sammelten Holzzweige und trockenes Laub um es als Brennmaterial zu nutzen. Außerdem wurden alle privaten Geschäfte und Läden von den Behörden abgeriegelt und bewacht. Vom Regime bekamen die Menschen im ehemaligen Südvietnam nicht mal genug Reis um satt zu werden, und das sogar nur in Tierfutterqualität. Tee . . . ja . . . . . Tee war ein Luxusgenussmittel geworden. Kaffee gab es schon gar nicht. Wer noch welchen von früher übrig hatte, konnte ihn nur noch sparsam genießen.
Mit einem besorgten und zornigen Ton wollte Tante Năm ihr innerliches Gefühl sofort herauslassen, weil sie es in ihrer Situation nicht mehr aushalten konnte. Meine Mutter: "Trink erstmal den Tee, wir haben ihn gerade nach dem Essen gekocht. Er ist noch warm . . . . . . . . . Schwester Năm, trink mal, bevor er kalt wird." Tante Năm trank dann den Tee aus und war ein wenig ruhiger geworden, dann erzählte sie unverzüglich, was sie von ihrer älteren Tochter Vân erfahren hatte, die bei den alten Bauern als Hilfskraft arbeitete: Die "30.04." forderten von den alten Bauern mehr "Kooperation" indem sie mehr Geld von ihnen verlangten, weil die "Schutz-Herren" auch mehr von den "30.04." haben wollten. Anderenfalls dürften die Bauern keine fremde Hilfe (außerhalb der Famillie) in Anspruch nehmen. Und wenn die Landflächen nicht erfolgreich bewirtschaftet würden, dann würden diese Flächen von dem Regime beschlagnahmt. Das war Unterdrückung und Drohung zugleich. Tante Năm: "Die leben schon von der Hand in den Mund, wie sollen sie noch mehr Geld abgeben können? Meine Kinder arbeiten hart und haben auch nicht mal eine Mahlzeit, von der sie richtig satt werden können. Die wollen uns in einen aussichtslosen Weg drängen, was sollen wir nur tun?" Tante Năm war plötzlich still und wir merkten, dass sie zornig war, aber größer als der Zorn waren ihre Sorgen um die Zukunft ihrer Familie . . . . . . . . . Es war still in dem Raum, so still und so eine drückende Stimmung.
Meine Eltern waren bekannt als gute Gastgeber und gute Zuhörer. Wir hatten viel Mitgefühl mit Tante Năm, aber in dem Moment hatten meine Eltern und ich kein Wort geäußert. Uns fiel nicht ein, was wir sagen sollten, weil wir in der Zeit, besonders an dem Tag, in unseren Gedanken bei meinen Brüdern, meiner Schwägerin und meinem Neffen waren, die sich auf der Flucht befanden. . . . . . . . . Tante Năm brach die Stille, sie sprach weiter mit einem leichten und traurigen Ton: "Die Polizei bei den Lagerhäusern war heute sehr aggressiv. Sie haben nicht nur die Kinder beim Reissammeln auf der Straße weggejagt, sondern sind auch hinter den Kinder hergelaufen und haben ihnen den Reis weggenommen. Beim Weglaufen hat sich mein jüngster Sohn Tấn an der Betonsitzbank am Ufer gestoßen und jetzt hat er ein geschwollenes Bein." Mein Vater: "Er sollte bei uns vorbeikommen. Wir haben das '红花油(hong hua you) / Rote Blumen Öl', das kann ihm vielleicht helfen" - Das "Rote Blumen Öl", ein Öl aus Singapur, war eine chinesische alltägliche Medizin, die fast alle Chinesen in ihrem Haushalt hatten. Es wirkt gegen Muskelschmerzen, Schwellungen, usw. - Tante Năm: "Ich hole ihn!"
Tante Năm kam mit ihrem jungen Sohn Tấn wieder zu uns. Nachdem das Bein von Tấn mit dem Öl eingerieben wurde, erzählte er laut und mit einem unzufriedenen Ton. Ich gab ihm ein Zeichen, dass er leiser sprechen sollte. Der junge Sohn von Tante Năm erzählte folgendes: Ein Polizist war hinter ihm her gelaufen und hatte ihm seine Tüte mit Reiskörnern, die er auf der Straße gesammelt hatte, weggenommen. Tấn: "Er hat mir die Tüte weggenommen und mich noch gestoßen, so dass ich auf die Ecke der Betonsitzbank gefallen bin. Anfangs hatte ich noch nicht so Schmerzen, aber jetzt habe ich sie . . . . . ." Der Neunjährige erzählte weiter mit einem begeisterten Ton: "Der Minh hielt seine Tüte ganz fest, er wollte nicht loslassen. Der Polizist schlug ihm ins Gesicht und beschimpfte ihn als Dieb. Minh hat dann ganz laut geweint. Der Trung schrie plötzlich ganz laut: 'Ihr seid auch Diebe, der Reis gehört auch nicht euch'. Die Polizisten wollten die beide wegziehen, aber die beiden weigerten sich mitzukommen, versuchten sich zu befreien und haben laut geschrien und geweint, so dass viele Leute aus ihrem Haus kamen und schauten" . . . . . . . Es war wieder still im Raum. Tante Năm sagte zu ihrem Sohn, dass er schon nach Hause gehen solle und sie würde nachkommen. Mein Vater: "Er sollte noch ein paar Mal zum Öl einreiben kommen, dann wird es wieder gut." Der Junge sagte: "Danke Tante, danke Onkel!", dann ging er.
Ich machte die Terrassentür zu, ging wieder ins Haus, in dem Moment sagte meine Mutter: "Früher haben wir uns nur Sorgen um die Kinder an der Kriegsfront gemacht, heute kommen die Sorgen von allen Seiten." Tante Năm zog ihren Stuhl nah zu meiner Mutter, nahm die Hand meiner Mutter in ihre Hände und sagte: "Wenn mein Mann, die Kinder und ich die Möglichkeit hätten, würden wir auch sofort dieses Land verlassen. . . . . ." Dann schaute sie kurz zu meinem Vater und dann wieder zu meiner Mutter: "Für die, die auf der Flucht sind, wünsche ich, dass sie viel Glück haben." Meiner Mutter kamen fast die Tränen und sie konnte kein Wort mehr sagen. Mein Vater auch nicht. Unsere Nachbarin verabschiedete sich von uns. Ich brachte sie zur Terrassentür. Es war schon dunkel und still draußen, nur die Mondsichel hing einsam am Himmel. Tante Năm und ich schauten nach links und dann nach rechts, dann ging sie schnellen Schrittes hinüber zu ihrem Haus. Als ich ins Haus kam, sagte mein Vater, dass Tante Năm die Abwesenheit meiner Brüder, der Schwägerin und des Neffen bereits bemerkt hätte und sich denken könnte, dass die Familienmitglieder auf der Flucht waren. Dieser Tag blieb mir noch jahrelang bis heute in meiner Erinnerung.

Mein Vater hatte auch am nächsten Tag von Onkel 邓康 (Deng Kang), einem vertrauten Freund unserer Familie und ehemaligem Vorstand der Reisträger-Gewerkschaft, erfahren und uns erzählt, dass bei den Lagerhäusern an dem großen Fluss auch Leute festgenommen wurden. Das waren nicht nur die Kinder, sondern auch die Reisträger. Als die Polizisten die Kinder beim Reissammeln auf der Straße festgenommen hatten, weinten und schrien die Kinder laut. Die Reisträger hatten gerufen, dass die Polizisten die Kinder in Ruhe lassen sollten: "Es sind nur Kinder, die haben nichts zu essen!", "Bitte lassen sie die Kinder frei!", usw. In dieser Stimmung hatten sich einige Reisträger untereinander unterhalten: "Die 'befreien' nicht uns, die 'befreien' unsere Güter, für sich natürlich!" "Für den Norden!" Einer der Reisträger mit einem ärgerlichen Ton: "'Befreien' . . . 'Befreien ist gut, Plünderei ist das!" "Bald haben wir nichts mehr zum essen, nicht mal in Schweinefutter-Qualität." . . . .usw. Die Polizisten hatten das mitbekommen und die Reisträger wurden auch abgeführt.
Mein Vater erzählte weiter: "Onkel Deng Kang hat auch gesagt, dass alle Lagerhäuser fast leer sind. Wenn die Ernte hier bei uns auch schlecht läuft, dann werden wir hier zuerst verhungern, weil die 'Genossen' die guten Qualitäts-Lebensmittel inklusive Reis, natürlich zuerst nach Norden hinter den 17. Breitengrad transportieren, insbesondere nach Hà Nội. Es würde für uns hier im Süden nur wenig übrig bleiben, um satt zu werden." Mein Vater weiter: "Die aus dem Norden sind gut im Krieg, aber haben wenig Ahnung von Agrarwirtschaft und Bewässerungssystemen für die Reisplantagen . . . . . . . . Das wissen schon alle Leute, auch sie selber. In der Zeit, in der sie den Angriffskrieg gegen Südvietnam führten, wurden sie vor allem von der Sowjetunion unterstützt. China war auch dabei, bis 1973 China die Tür für die westliche Welt öffnete. Inbesondere China, China war in den 60er Jahren in einer Hungersnot. Trotzdem hatte China das kommunistische Vietnam an der Front und im Hinterland mit u.a. genug Lebensmitteln unterstützt, um dem kommunistischen Vietnam den Rücken frei zu halten, damit der Aggressor den Angriffskrieg konzentriert durchführen konnte." Mein Vater erzählte weiter, dass seit 1973 die "Genossen" des kommunistischen Vietnam China als "Verräter der internationalen kommunistischen Brüderschaft und Feinde der Arbeiterklassen" unflätig beschimpften. Besonders heftig seit dem Jahr 1978, weil China dem Land die Reform- und Öffnungspolitik bringe, "改革開放 (gaige kaifang) / Reform und Öffnung" Chinas in Wirtschaft und Politik gegenüber der Welt, inbesondere USA und Europa. Deswegen machten sich Onkel Deng Kang und ein anwesender Freund Sorgen um die Menschen mit chinesischen Wurzeln und Abstammung, die hier im Land lebten.

"Wenn die Bäume Beine hätten . . . . . . . . "

Das Abendessen stand schon auf dem Tisch. An dem Abend hatten wir nicht nur Gemüse, sondern sogar Fleisch, glücklicherweise direkt vom Bauern auf dem Schwarzmarkt. Das war unser erstes Essen mit Fleisch nach fast einem Monat. Die 300 Gramm Fleisch für alle Familienmitglieder, die noch bei meinen Eltern wohnten, kosteten mehr als 3 kg Fleisch vor dem 30. April 1975.
Mein Mutter wollte, dass wir das Essen zügig einnehmen, sobald es auf dem Tisch stand. Es könnte unangenehmen "Besuch" von "Genossen" geben, die direkt zur Küche hereinkommen, um neugierig zu schauen, was wir uns leisten können. . . . . . Beim Essen hörten wir dann plötzlich den Ruf von jemandem an der Terrassentür: "Ist jemand zu Hause? . . . . . .Hallo, ist jemand zu Hause?" Mein Vater gab mir ein Zeichen, dass ich nach vorne gehen sollte um zu schauen wer das war. Meine Schwester stellte den Teller mit dem Fleisch sofort in den Küchenschrank. An der Haustür sah ich die Frau Hai Thanh an der Terassentür stehen. Ich berichtete das sofort meinen Eltern: "Frau Hai Thanh". Meine Eltern waren erstaunt und überrascht zugleich: "Was will die denn von uns?"
Frau Hai Thanh wohnte in unserer Straße am linken Ende des Wohnblocks neben einer kleinen Gasse, an der auch ein großes Lagerhaus lag. Frau Hai Thanh, eine Frau, die für ihr Alter noch sehr schön anzusehen war, das sagten viele. Für mich hat die Frau nicht so viel unterschiedlich ausgesehen wie die anderen. Vielleicht war ich noch zu jung, um etwas für die Schönheit einer Frau oder das gute Aussehen eines Mannes zu empfinden. Wenn mir der Charakter eines Menschen gefällt, dann finde ich das irgendwie interessanter.
Frau Hai Thanh, über sie erzählte man, dass ihre Eltern in der Indochinazeit mit den Franzosen zusammen arbeiteten. Dadurch waren sie sehr reich geworden. Sie wurden von vielen Einheimischen als "Verräter des Vaterlandes Vietnam" betrachtet. In der Jugendzeit hatte Frau Hai Thanh die französische Kolonieschule in Saigon besucht, arbeitete später als Sekretärin bei der französischen Verwaltung, um dann mit einem französischen Offizier zusammenzuleben. Ob sie verheiratet waren, war in der vietnamesischen Gesellschaft nicht bekannt. Ihr "Mann", der französische Offizier, hatte angeblich für die beiden die kleine Villa gebaut, die heute noch dort stand. . . . . . . .
Als wir 1957 von der Provinz Ba Xuyen nach Saigon umgezogen sind, war diese Villa schon da. Im Jahr 1954 war die Indochinazeit zuende. Es entstand das kommunistische Nordvietnam und die Republik Vietnam (Südvietnam) und die französischen Kolonieherrscher zogen sich nach und nach nach Frankreich zurück. Darunter war auch Frau Hai Thanh's "Mann". Aber Frau Hai Thanh war in Saigon zurückgeblieben, aus welchem Grund weiß man bis heute nicht. Kurz danach heiratete sie einen vietnamesischen Französisch-Dolmetscher, Herrn Hai Thanh. Daher kam ihr Rufname: Frau Hai Thanh. Ihren einzigen Sohn hatte ich ab und zu auf der Terasse vor der Villa gesehen. Der junge Mann hatte einen blassen Teint und braunes Haar statt schwarzem. Die Leute tuschelten, der Sohn war von dem Franzosen und nicht von dem Vietnamesen, Herrn Hai Thanh. Das Ehepaar Hai Thanh lebte fast isoliert von der Außenwelt. Die beiden arbeiteten fast garnicht, der Sohn ging auch nicht zur Schule. Wahrscheinlich wurde er von den Schulkameraden dauernd gehänselt oder schikaniert. Man erzählte auch, dass Frau Hai Thanh von ihrem ersten "Mann" viel Geld hinterlassen bekommen hatte und deswegen Herr Hai Thanh sie geheiratet hat. Manche Leute meinten, dass sie ihr Vermögen als einziges Kind von ihren Eltern geerbt hatte. Frau Hai Thanhs ersten "Mann", den französischen Offizier, hatten ihre Eltern über die französische Koloniebehörde an sie vermittelt. Der "Mann" hatte es nur auf das Vermögen ihrer Eltern abgesehen, die auch die Villa finanziert hatten. Sie hatte ihn wegen ihrer Eltern und aus gesellschaftlichen Gründen "geheiratet" und weil sie keine andere Wahl hatte, so erzählte man sich. . . . . . . . .
Mit uns hatte die Frau Hai Thanh gar keinen privaten Kontakt. Vor 1975 nicht und auch nicht nach 1975. Wenn meine Mutter ihr vor 1975 ab und zu am Blumenstand auf dem Markt begegnete, dann gab es nur eine kurze Begrüßung. Einmal war ich zu dem großen Lagerhaus gegangen, vorbei an der Villa, sah dann den Sohn auf der Terrasse. Ich hatte ihn begrüßt, er schaute mich mit einem außergewöhnlichen Blick an. Irgendwie wollte er mir etwas sagen, dann ging er plötzlich ins Haus.
Meine Mutter ging sofort nach vorne, wollte sie gerade begrüßen und bitten Platz zu nehmen, aber die Frau Hai Thanh war schneller: "Frau Gruppenvorstand, geht es ihnen gut?" "Natürlich, ich kann nicht klagen. Gesund und zufrieden." Frau Hai Thanh starrte meine Mutter mit einem erstaunten Blick an. Mit ein bisschen Verzögerung sagte sie dann: "Ja, das hoffen wir alle." Dann fragte sie: "Gibt es Neuigkeiten?" Meine Mutter war unvorbereitet von der überraschenden Frage und fragte sich, was die Frau wohl wirklich wollte. Ich: "Was meinen sie für Neuigkeiten? Alle Informationen kann man durch die Behörden und das Radio bekommen." Frau Hai Thanh: "Nein, ich meine . . . . . ich meine, haben wir am nächsten Sonntag was zu tun?" "Hat ihr Gruppenvorstand sie noch nicht informiert? Auch diesen Sonntag soll von jeder Familie eine Person zur gemeinnützigen Arbeit gehen. Nachmittags ist Jugend- und Männerversammlung und abends die Frauenversammlung", sagte meine Mutter. Frau Hai Thanh: "Ah ja, . . . . . das habe ich schon gewusst. . . . ich meine . . . . ", Frau Hai Thanh lehnte sich zu meiner Mutter hinüber und sprach leise weiter "Haben sie nicht schon gehört, dass viele Leute versuchen das Land zu verlassen? Ich meine, über die Grenze zu flüchten. Auf dem Landweg nach China oder über Laos nach Thailand, viele versuchen ihr Glück auf dem Seeweg. . . . Ihr hattet doch eine Schiffsspedition." Ich musste sie sofort unterbrechen: "Unsere Schiffe haben wir der Regierung übergeben, um dem Volk und dem Land zu dienen. Wir haben natürlich auch die Radioberichte der Behörden mitbekommen, dass die Leute, die über die Landesgrenze flüchten am Ende im Gefängnis oder Arbeitslager landen." Meine Mutter: "Warum die Leute aus dem Land flüchten, ich verstehe das nicht." Frau Hai Thanh war zuerst still, dann sprach sie mit einem festen Ton: "Wenn die Bäume Beine hätten würden sie auch versuchen, das Land zu verlassen, flüchten." Die Frau verabschiedete sich wortlos, drehte sich um und ging.
Nach diesem Gespräch mit Frau Hai Thanh entschieden wir uns sofort dafür, dass meine Mutter sich am nächsten Tag bei den Behörden melden sollte, weil wir fürchteten, dass wir unsere Situation nicht mehr geheimhalten konnten. Wir konnten die ganze Nacht nicht mehr schlafen.

Ein Risiko eingehen

Am nächsten Tag ging meine Mutter zu der Behörde und fragte, ob sie wissen, wo die fehlenden Familienmitglieder seien. Weil, wenn sie sich vom Wohnort entfernen, mussten sie sich bei der Behörde gemeldet haben. Der Polizist hatte in das Protokollbuch geschaut und war empört: "Nein!" Meine Mutter tat verzweifelt und entsetzt und sagte nicht ganz wahrheitsgemäß: "Sie sind seit zwei Tagen nicht zurückgekommen. Ich hoffe, denen ist nichts zugestoßen. Wo sind sie? Wo sind meine Kinder?" Sie bat die Behörden darum, die Verwandten zu suchen und falls gefunden uns schnell zu informieren. "Ich hoffe, dass ihnen allen nichts passiert ist und sie gesund nach Hause kommen. Bitte helfen sie uns, bitte!"
Meine Mutter war noch ein paar mal bei der Behörde, um sich über den aktuellen Stand der Suche nach den "vermissten" Familienmitgliedern zu erkundigen.
Ein paar Monate später hatten wir eine kurze kodierte Nachricht erhalten, dass meine Brüder, die Schwägerin und der Neffe auf der malaysischen Insel Bidong von den Vertretern Amerikas und Australien in diese Länder abgeholt wurden, um dort ein neues Leben anzufangen. Das war eine große Erleichterung für uns. Trotzdem machten wir wegen der "verschwundenen" Familienmitglieder weiter Anfragen bei der Behörde, bis diese schließlich irgendwann die Ermittlungen einstellten.

Im Zweifel

Ein paar Monate nach dem Gespräch mit Frau Hai Thanh sahen wir, dass die Villa von ihr von den Behörden verriegelt wurde. Die Leute tuschelten, dass die Familie schon auf der Flucht war. Bis heute können wir immer noch nicht einschätzen, warum Frau Hai Thanh zu uns gekommen war, um so öffentlich ein Gespräch mit uns zu führen. Wie kam es dazu, dass sie sich uns anvertraut hatte? Hatte sie damals dringend eine Fluchtmöglichkeit gesucht und dachte, wir waren wie sie in derselben Notlage? Wenn, dann sind wir ihr etwas schuldig und hoffen, dass sie ein zufriedenes Leben im Ausland hatte. Bis heute spüre ich noch, dass Frau Hai Thanh einen außergewöhnlichen Charakter hatte und die gesellschaftliche Ausgrenzung nicht verdient hatte. In eine Familie als "Verräter des Vaterlandes" geboren, hatte das Schicksal ihre Zukunft vorausbestimmt. Vielleicht hatte sie für ihr Leben, wie sie es wollte, gekämpft, aber Mädchen und Frauen konnten in der Zeit ihr Leben nicht alleine bestimmen. Wie manche andere Leute hatte auch sie ein Schicksal, das sie nicht ändern konnte.

"Der Gewinner ist der König . . . . ."

Schon kurz nach dem 30. April 1975, unter dem vietnamesischen kommunistischen Regime, ging es den Bürgern des ehemaligen Südvietnam sehr schlecht. Im Jahr 1979, fast vier Jahre unter dem Regime ging es ihnen noch schlechter, dramatisch schlechter. Sie hatten ihr Land verteidigt, aber es dann am Ende doch verloren. Sie fühlten sich von den Amerikanern im Stich gelassen, viele hatten sogar das Gefühl, dass sie durch den Vertrag von Paris (1973) von Amerika verkauft und verraten wurden. Den Vertrag fand Südvietnam ungerecht, aber am Ende wurden sie von den Amerikanern gezwungen, ihn zu unterschreiben. "Die Amerikaner hätten die Meinung von Ngô Đình Diệm, dem Präsidenten der Ersten Republik Vietnam (Südvietnam) akzeptieren sollen. Ngô Đình Diệm bat die Amerikaner nur um Waffen und Munition, um damit Südvietnam verteidigen zu können. Er bat um keine Armee, weil die Amerikaner das tropische Klima nicht gut vertragen könnten und sie das kommunistische Vietnam nicht gut kennen würden. Aber . . . . . . . . . Nein! Der Präsident wurde ermordet. Die Amerikaner gingen lieber selbst in den Sumpf und zogen Südvietnam mit hinunter . . . . . . . . . Wir hätten unser Land bestimmt nicht verloren, wenn die Amerikaner nicht nur an ihre eigene Machtposition gedacht hätten!" meinen die meisten der ehemaligen Bürger von Südvietnam.
Die Bürger des ehemaligen Südvietnam lebten seit der sogenannten "Befreiung" unter dem Regime des kommunistischen Vietnam ständig unter Bedrohung, Angst und Sorgen. Besonders Menschen, die in die "Neuen Wirtschaftsgebiete" abgeschoben wurden oder auch nicht, und die Verwandte hatten, die sich in den sogenannten "Umerziehungslagern" – in Wirklichkeit Foltergefängnissen – an meist unbekannten Orten befanden, bekamen keinen Zugang für einen Besuch. Sie machten sich nicht nur Sorgen um die Verwandten, sondern kämpften selbst täglich und dauernd um ihr eigenes Überleben.
Die Menschen mussten oft mehr als 12 Stunden am Tag arbeiten, 6 Tage in der Woche und hatten trotzdem nicht genug zu essen. Sie bekamen von den staatlichen Läden nur Reis in schlechter Qualität, aber den mussten sie schon mit einem großen Teil ihres Lohnes bezahlen. Alles andere konnten sie nur auf dem Schwarzmarkt bekommen und das war mit ihrem Lohn, trotz harter Arbeit, unbezahlbar. Natürlich konnte auch der Bedarf nach alltäglichen Gütern nicht gedeckt werden. Zum Beispiel trugen sie immer noch dieselbe Kleidung, die sie schon vor dem 30.4.1975 besaßen, und die sehr abgetragen war, sowie Schuhe und Schlappen, die schon mehrfach selbst geflickt waren, usw. Viele waren auch krank, aber sie hatten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die fünf chinesischen, privaten Krankenhäuser, die vor dem 30.04.1975 durch Spenden wohlhabender Chinesen finanziert wurden und die die Geringverdiener und durchschnittlich verdienenden Menschen kostenlos behandelt hatten, waren nun staatlich geworden. Diese und auch die staatlichen Krankenhäuser weigerten sich, sie als Patienten anzunehmen. Trotzdem mussten sie bei ihrer Arbeitseinheit erscheinen. Sie fühlten sich nun so, wie die kommunistische Propaganda vor dem 30.4.1975 immer falsch behauptet hatte, nämlich dass "die Bürger Südvietnams wie Sklaven behandelt wurden". Aber in Wahrheit wurden sie nun unter dem neuen Regime, dem Regime des kommunistischen Vietnam, wie Sklaven behandelt.
Wer vor dem 30.04.1975 noch Ersparnisse in Gold, Schmuck oder US-Dollar hatte und diese rechtzeitig versteckt hatte, konnte dann diese nach und nach verkaufen und so sparsam überleben. Das Verkaufen der Wertsachen ging nur durch eine einzige Möglichkeit: Durch eine Kontaktperson, die in Verbindung zu einem "30.04." stand. Die Käufer blieben immer im dunklen Hintergrund. Man sah und kannte sie nicht, aber man wusste, dass diese Personen Parteifunktionäre und Behördenangehörige waren. Diese Leute streckten ihre langen Arme aus und griffen nach den versteckten Ersparnissen der Bürger des ehemaligen Südvietnam in Gold, Schmuck oder US-Dollar, im Auftrag des Regimes und auch für sich selbst.

Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort: "胜者王 败者贼", im Vietnamesischen gibt es ein so ähnliches: "Thắng là vua, thua là giặc", das bedeutet: "Der Gewinner ist der König, der Verlierer ist der Räuber."
Der Aggressor – Kriegsverbrecher aus Nordvietnam - fühlte sich wie ein König, mit der Kriegsbeute hatte er Grund zu feiern. Sie wohnten in Villen, Hochhäusern, Häusern von denen, die schon vor dem 30.04.1975 ins Ausland flüchten konnten oder nach dem "Befreiungstag" in eins der "Umerziehungslager" eingesperrt , bzw. in eins der "Neuen Wirtschaftsgebiete" abgeschoben wurden. Die Funktionäre versuchten mit allen Möglichkeiten einen Posten in dem fruchtbaren Land (dem ehemaligen Südvietnam) zu bekommen. Um ein besseres Leben zu führen und einen Teil der Kriegsbeute noch schnell abzugreifen. Nach und nach sind dann auch ihre Familien, Verwandten und enge Vertraute aus dem Norden nachgekommen. Nach und nach wurden auch Häuser, besonders in den Stadtzentren, mit vorgeschobenen Gründen oder auch grundlos beschlagnahmt, um den Bedarf der Funktionäre zu decken. Die ehemaligen Besitzer der Häuser wurden natürlich in eins der "Neuen Wirtschaftsgebiete" abgeschoben.
Viele Bewohner von Häusern und Hochhäusern wurden aufgefordert mit der Revolutionsregierung zu kooperieren, dass sie den Wohnraum mit den Funktionären bzw. Polizisten teilen sollten: "Sie sollten froh sein, dass sie mit den Revolutionären zusammenleben können, um damit für die Befreiung zu danken!"
Die "Könige", die den Krieg gewonnen hatten, fuhren nun Autos und Motorräder von den aus ihrer Sicht sogenannten "Räubern" - den Kriegsverlierern -, Fahrradfahren war für die "Könige" eine Erniedrigung geworden. Sie rauchten nun Markenzigaretten wie z.B. "Salem", "Dunhill", etc., die von den kapitalistischen Firmen waren, die sie immer als Sklavenhalter beschimpft hatten. Jeder von denen wollte unbedingt ein "Zippo"-Feuerzeug haben. Fast alle der Kriegsverbrecherseite trugen eine dunkle "RayBan"-Brille, natürlich auch an wolkigen Tagen. Wichtig war für sie, zu zeigen, dass sie etwas erreicht hatten. Sie kleideten sich nun mit den besten importierten Qualitätsstoffen des ehemaligen Südvietnam. Sie trugen teure Schuhe der besten Schuhmarken und auch dem damals einzigen Schuh aus den USA: "Bata", natürlich importiert auch in der Zeit von Südvietnam.
Die weiblichen Personen der Kriegsverbrecherseite mussten sich mit noch mehr "beschäftigen", als die Männer. Sie versuchten sich herauszuputzen, um zu zeigen, dass sie nun auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sie trugen nun "Farbe" auf ihren Gesichtern, was sie vorher nie gemacht hatten, aber nun sehr intensiv. Sie versuchten es und hofften, dass sie damit wenigstens etwas jünger aussehen! . . . . . . . Bevor Südvietnam besiegt wurde, hatten Frauen und ihre Männer aus dem kommunistischen Norden den gleichen Gedanken im Kopf, nämlich das sie endlich irgendwann satt würden. Nun, nach dem 30.04.1975, hatten fast alle der Männer andere Gedanken: Sie drehten den Kopf, sobald eine jüngere, weibliche Person vorbeiging. Nun machte sich die Ehefrau Sorgen und versuchte das mit allen Möglichkeiten zu verhindern . . . . . . . aber erfolglos. Nicht nur die höheren Funktionäre und Behördenmitglieder hatten mindestens eine zweite Frau oder eine heimliche Geliebte, man hörte auch überall, dass der oder die ganz normale untere Rang auch ein Verhältnis mit der oder dem hatte.
So wie alle anderen ging auch ich nicht vor den Ess-Lokalen vorbei, sondern wechselte auf die andere Straßenseite. Denn oft standen die selbsternannten "Könige" und "Königinnen" dicht davor, in ihrem Mund kauten sie noch auf einem Zahnstocher in einer stolzen Haltung. Sie erzählten, lachten, qualmten, reinigten die Zähne und spuckten die Essensreste auf die Straße. Ein paar der "30.04." waren auch immer dabei, um ihren Herren zu dienen. Man sah immer, dass sie in einer bereiten Haltung waren, zum Beispiel um die Zigarette ihres Herrn anzuzünden. Die Bürger des ehemaligen Südvietnam hassten natürlich auch den "30.04." und alle, die für das kommunistische Vietnam spionierten. Für sie waren diese Leute die Landesverräter und gehörten zu denen, die lebenslang eingesperrt werden sollten.

" . . . . . dann ist das Leben für mich qualvoll . . . . . "

Für mich: "Der Mensch braucht nicht nur den täglichen Konsum, sondern hat auch geistigen Bedarf. Wenn der tägliche Konsum nicht gedeckt und der geistige Bedarf nicht erfüllt ist, dann ist das Leben für ihn qualvoll, schlechter als das eines Tieres."

Für die Bürger des ehemaligen Südvietnam war es ein qualvolles Leben. Für sie gab es nun nicht mehr die tägliche Unterhaltung, wie z.B. internationale Filme aus Asien, Europa und aus den USA, keine vielseitigen Theateraufführungen, Konzerte oder verschiedene Arten von Opern zu sehen. Denn alle Kinos und Bühnenhäuser wurden dicht gemacht. Ein paar vom Regime organisierte Gruppen mit berühmten Südvietnamesischen Schauspielern spielten nur die vom Regime vorgeschriebenen Stücke, die ab und zu im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Nun wurden die berühmten Schauspieler und Schauspielerinnen vom Regime nur für die eigene Propaganda ausgenutzt. Statt vielseitiger nationaler und internationaler Literatur gab es nur noch die von der vietnamesischen kommunistischen Partei und deren Regime herausgegebenen Bücher, so ist es heute im Jahre 2018 immer noch. Nightclubs, Cafes, Musikcafe-Häuser, Restaurants wurden allesamt verriegelt. Es gab nur noch Esslokale, aber die waren nur für die Genossinnen und Genossen gedacht. Für die Verlierer gab es keinen Zugang, aber sie hätten sich auch selbst geweigert dort hinzugehen.
Es gab in der Zeit jeweils ein Radio- und ein Fernsehprogramm. Für das Regime war es von Vorteil, dass die Bürger des ehemaligen Südvietnam fast alle einen Fernseher, bzw. mindestens ein Radio zuhause hatten. Dadurch brauchte das Regime keine Lautsprecher an jeder Straßenecke zu bauen wie in Nordvietnam, und ihre Propaganda reichte tief in das Privatleben der Menschen hinein. Sobald man Fernseher oder Radio einschaltete, hörte man immer dasselbe, nämlich, dass "durch die Führung von Onkel Hồ und der vietnamesischen kommunistischen Partei das Böse und die Sklaverei des Kolonialherrschers Frankreich aus dem Land gejagt wurde, dass der Aggressor Amerika nach Hause verschwinden musste und die Südvietnam gefallen ist. Auf dem Weg zum Paradies des sozialen Kommunismus kommen wir dem Ziel Schritt für Schritt immer näher . . . . ." Es gab natürlich auch tägliche Nachrichten, in denen berichtet wurde, was das Regime alles erfolgreich erreicht hatte und das Volk animiert wurde, der Partei zu folgen, treu und gehorsam zu sein. Es gab ab und zu ein von dem Regime arrangiertes Bühnenstück im Fernsehen zu sehen. Für noch mehr Unterhaltung gab es jede Woche zwei Fernsehserien zu sehen: eine aus der Sowjetunion, an den Titel kann ich mich noch erinnern "Siebzehn Augenblicke des Frühlings", und eine andere in Polen produzierte Agentenserie.
Ich vermisse bis heute immer noch sehr die Zeit vor dem 30.04.1975: Insbesondere war das für mich die aktive Beschäftigung in der Kunstszene, in der vom Krieg noch nicht zerstörten Natur, das Bummeln auf den Bücherboulevards mit internationalen Bücherläden, mit Freunden in die Musikcafe-Häuser, Restaurants und Ausstellungen zu gehen. Eine schöne Zeit für mich - trotz des Kriegshintergrundes - bis ich mich beim Militärdienst meldete.

Die Bürger des ehemaligen Südvietnam arbeiteten hart für einen Hungerlohn, abends hockten sie mit Angst und Sorgen zuhause. Oft konnten sie sich nicht von der Arbeit erholen, weil sie vor Sorgen und Angst nicht gut schlafen konnten.
Ihre Angst war (und ist es heute im Jahre 2018 immer noch), dass sie z.B. plötzlich von den Behörden "eingeladen" werden. Man erzählt, dass sie bei der Ankunft in der Behörde oft von den "Genossen" im Voraus eingeschüchtert wurden: "Was haben sie gegen die revolutionäre Regierung geäußert?" Und wenn man antwortete und sagte, dass man das nicht getan hätte, dann kam die Rückfrage: "Wieso hat man uns das erzählt?" Und wenn man fragte: "Wer hat ihnen das erzählt?", dann hieß es: "Aus Sicherheitsgründen können wir ihnen den Namen unseres Informanden nicht nennen." Dann baten die Genossen den Vorgeladenen um Kooperation, indem er für die revolutionäre Regierung "Informationen sammeln", d.h. spionieren sollte. Damit wären dann auch alle angeblichen Taten bis dahin getilgt, obwohl die Vorgeladenen sich keiner Schuld bewusst waren. Aber sie wurden weiter regelmäßig zum "Gespräch" eingeladen, um die angefragten Informationen zu liefern. Wenn sie keine Informationen liefern konnten, dann blieben "die Taten" der Vorgeladenen ungetilgt. Einige der Vorgeladenen konnten es nach mehrmaligen "Gesprächsstunden" nicht mehr aushalten, waren mit den Nerven am Ende und nannten einfach einen Namen einer Person, die sie kannten, um Ruhe zu haben. Gerade dadurch führten sie den anderen auch in den Teufelskreis, aus dem sie sich beide selbst nicht mehr befreien konnten. Gerade das führte die Menschen zu gegenseitigem Misstrauen und somit hatte das Regime die Situation natürlich für sich ausgenutzt. Es kam dazu, dass manche solche Angst hatten, dass sie sobald sie irgendwas hörten, es sofort bei der Polizei meldeten. Viele trauten sich nicht mehr irgendetwas zu äußern, insbesondere in der Öffentlichkeit, oft aber auch bei guten Freunden, weil es könnte ja irgendjemand mitbekommen und dann . . . . . . . .
Die Menschen machten sich z.B. auch schon Sorgen um ihre noch kleinen Kinder. Mit dem Lehrprogramm in der Schule würden die Kinder später nur noch zum Werkzeug des Regimes und wären dann sogar gegen sie, die Eltern. Die Eltern hatten alles mögliche versucht, aber sie konnten da wenig gegensteuern. Sie sorgten sich auch um das, worüber sie sich eigentlich früher, vor dem 30.04.1975, keine Gedanken machen mussten: Die Mahlzeiten! Das trugen viele Menschen in ihren Gedanken und fragten sich: "Wann haben wir endlich wieder genug zum Essen für eine Mahlzeit?" Der Grund dafür war, dass sie den täglichen Bedarf nur auf dem Schwarzmarkt decken konnten, aber oft stand zu wenig zur Verfügung und es war so sündhaft teuer, dass viele sich das nicht leisten konnten. Wenn sie nur den Reis aßen, den Reis, den sie von den Behörden zugeteilt bekamen, dann war das nicht genug.

Der Aggressor aus dem Norden hatte den Krieg zwar gewonnen, aber wurde dann vom Bündnis der westlichen Länder isoliert. Es gab nicht genug Benzin und niemand wollte das den Barbaren liefern. Von den kommunistischen Brüderländern bekam der neue Staat keine Unterstützung mehr, von China seit 1973 sowieso nicht. Denn der Bruder Vietnam hatte schon zwei große Kriegsbeuten (Südvietnam und Kambodscha) bekommen, nun sollten sie alleine damit zurecht kommen. Und was war mit den sechzehn Tonnen Goldbarren aus der Bank von Südvietnam? Hatte man das nicht alles schon nach Hà Nội transportiert, dann in der Sowjetunion abgegeben, um es gegen Benzin zu tauschen? Alle Tankstellen in Vietnam waren dicht. Für die Bürger des ehemaligen Südvietnam gab es nach der so genannten "Befreiung" kein Benzin mehr. Sie brauchten es auch nicht, denn sie besaßen sowieso kein Auto und Motorrad mehr, noch nicht einmal ein Fahrrad, ein neues. Wenn sie irgendwo hin wollten, so gab es nur eine einzige Möglichkeit: zu Fuß. Denn es gab in der Stadt auch keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Die Fernbusse fuhren auch nicht mehr regelmäßig, weil sie dauernd defekt waren und auch das Benzin fehlte. Und wo waren die gut erhaltenen Stadtbusse und Fernbusse, mit denen die Menschen vor dem 30.4.1975 schon mal zum Beispiel nach Vũng Tàu, Quy Nhơn, Nha Trang, Đà Nẵng und Huế, und auch in den Süden bis nach Cà Mau gefahren waren? Das waren zum Beispiel Mercedes, Dodge, Ford, Toyota, Renault, Chevrolet und Hotchkiss. Natürlich befanden sich diese Busse und Autos nun in der Hauptstadt Hà Nội, um dort den "Reichtum" des kommunistischen Vietnam zu präsentieren. Manche Bürger der ehemaligen Republik Vietnam (Südvietnam) hatten das Glück, dass sie ihr altes Fahrrad behalten durften, das war nun fast ein Luxustransportmittel geworden.
Meine Arbeitsstelle, die Fluss-Speditionsfirma der Stadt, lag an der anderen Seite eines Flusses. Dieser Fluss ist ein Querfluss des Flusses vor unserem Haus, am rechten Ende der Uferstraße. Zu der Firma konnte ich mit einem Fährboot übersetzen – das war ein Kahn mit einem alten Ruderer - oder ich konnte über eine hohe Fußgängerbrücke gehen, beide waren circa 150 Meter voneinander entfernt. Zu Fuß dauerte der gesamte Weg circa dreißig Minuten. Viele andere Leute mussten täglich circa drei Stunden zu Fuß hin und zurück zur Arbeit gehen und das war für sie qualvoll, besonders wenn sie einen leeren Magen hatten.
Für die Parteifunktionäre und Behörden gab es natürlich mehr als genug Benzin, sowohl für den Dienst als auch für die Freizeit. Denn ihre Kriegsbeute, die Autos und Motorräder "soll man nicht verrosten lassen!"

"Paradies" und Hölle

Ich ging wie üblich täglich zu meiner Arbeitseinheit, Montag bis Samstag, zu Fuß, Schritt für Schritt, Schritt für Schritt . . . . . . . . Ich hörte wieder und wieder was seit vier Jahren in mein Gedächtnis eingetrichtert wurde: "Durch die Führung von Onkel Hồ und der vietnamesischen kommunistischen Partei sind wir auf dem Weg zum Paradies des sozialen Kommunismus und kommen Schritt für Schritt immer näher an das Ziel" . . . . . . . Ich befand mich plötzlich in einem dichten Nebel. In der Nebelwand vor mir sah ich . . . . . . . . Menschen, . . . . . . ja, Menschen, die feierten, lachten, tanzten, erzählten, aßen, tranken und . . . . . und . . . . Alle schienen sehr glücklich zu sein. Ein sorgloses Leben wie im Paradies! Ich ging schnellen Schrittes nach vorn, um in das Paradies einzutreten, aber es verschwand schnell in den Nebelschwaden, dann . . . . . . . . erschien es wieder vor mir und wenn ich schnell nach vorn ging, verschwand es wieder! Auch nach mehreren Versuchen konnte ich das Paradies niemals erreichen . . . . . . . Ich sah dann Blut, überall Blut, ein Blutbad! . . . . . . . . Ich erinnerte mich dann an damals . . . . . . . .
. . . . . ja . . . . damals, Anfang 1975 als ich noch im Armeedienst von Südvietnam und seit einem Jahr auf einem Marine-Schiff das zweite Mal eingesetzt war . . . . . . diesmal auf einem Küsten- und Flusstransportschiff der Marine mit einem flachen Boden, das auch für die Landung am Strand geeignet ist. Unser Schiff sollte auf Befehl zum Strand in der Nähe von Huế fahren, um dort Menschen in Richtung Süden zu evakuieren, zu retten. Unter den Menschen waren ein paar Dutzend Soldaten, die letzten einer Kampfgruppe einer Heereseinheit der Armee, denen bei der Verteidigung gegen den Aggressor die Munition ausgegangen war. Sie mussten den Kampf aufgeben und hatten nur durch ihre Flucht überlebt. Der Rest waren alles Zivilisten, die vor den Kommunisten flüchteten.
Bei der Ankunft unseres Schiffes vor der Küste von Huế noch auf dem offenen Meer, sahen wir, wie die Kommunisten Raketen aus Verstecken auf den höher gelegenen Hügeln auf den langen Strand schossen. Trotz der weiten Entfernung sahen wir eine große Menschenmenge am Strand, geschätzt Tausende, die vor den Raketen des Aggressors flüchteten, mal nach links, dann nach rechts den langen Strand hin und her. Wir versuchten mehrfach das Schiff schnell zum Strand zu steuern, aber aus jeder Richtung hatten Explosionen von Raketen dicht vor unserem Schiff das verhindert. Die Raketen fielen wie Regen vom Himmel, die meisten landeten auf dem Strand, denn unser Schiff war noch in einer Entfernung, in der die Raketen uns sicher nicht erreichen konnten. Trotzdem wurde unser Schiff zweimal fast getroffen.
Auf der Brücke sahen der Kapitän, ein Kamerad und ich, dass viele der abgeschossenen Raketen Menschen in der Menge getroffen hatten und ihr Blut färbte fast den ganzen langen Strand in Rot. Trotz der weiten Entfernung hörten wir das laute Schreien und Weinen von Kindern und Erwachsenen. Mit dem Fernglas sahen wir, dass in diesem Blutbad trotzdem noch Menschen am Leben waren. Sie lagen im Blut und auf den Leichen, trotz schwerer Verletzungen streckten sie die Hände in Richtung Schiff und winkten . . . . . und winkten mit der für sie vielleicht schon letzten Kraft. Diejenigen, die noch am Leben waren und sich noch bewegen konnten, liefen ins Meer in Richtung unseres Schiffes, sie schrien ganz laut um Hilfe. Leute, die nicht schwimmen konnten, ertranken fast schon, denn das Meerwasser stand ihnen bis zum Hals, aber sie gingen weiter und weiter hinaus.
Der Kapitän hatte wieder befohlen, nochmal zu versuchen mit dem Schiff in schnellem Tempo am Strand zu landen. Mein Kamerad gab den Befehl weiter, durch das Sprechrohr direkt in den Steuerraum unter der Brücke und in den Maschinenraum. Ich entschied, den Menschen in Not zu helfen, sie ins Schiff zu holen, wenn das Schiff am Strand landete, dachte ich. "Ich gehe runter, Kapitän!" sagte ich in einem eiligen Ton. Der Kapitän hatte meine Gedanken gelesen und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Ich stieg eiligen Schrittes von der Brücke hinunter und als ich gerade auf das Schiffsdeck sprang, explodierten zwei Raketen ganz nah am Schiff, so dass es fast zum kentern gebracht wurde. Das in Massen herausgesprengte Wasser überschüttete das Schiff und mich, so dass ich auf das Schiffsdeck fiel. Dabei wurde ich in den hinteren Teil des Schiffes geschleudert und rutschte heftig gegen eine Sitzbank. Mit zwei Händen hielt ich die Sitzbank fest und als ich mich gerade darauf gesetzt hatte, gab es in dem Moment eine laute Explosion, die fast meine Trommelfell durchbohrte und mich für Sekunden betäubte.
"Wärmesuchende Rakete, wärmesuchende Rakete", diese Schreie hatten mich aus der Betäubung wieder aufgeweckt. Ich spürte dann, dass ich in meinem linken Bein starke Schmerzen hatte. "Ist das Bein schon gebrochen?" Ein furchtbarer Gedankenblitz schnellte durch meinen Kopf! . . . . . . . . . . . "Nein! Ich kann noch stehen" stellte ich fest. Erschrocken sah ich an mir überall Blut . . . . Blut. Durch die nasse Uniform verbreitete sich das Blut schnell über den ganzen Körper. Ich sah dann, dass der Querbalken der Sitzbank gebrochen war, bestimmt durch die herumfliegenden Splitter der Raketenexplosion. Ich hörte die Geräusche der Schiffsmaschine nicht mehr. Das Schiff trieb nun ohne Antrieb auf dem offenen Meer. Ich ging langsam und mit vorsichtigen Schritten nach Vorne, vorbei an der Steuerkabine. Aus der Tür zur Steuerkabine kam ein Kamerad, der Steuermann, mir langsam mit zwei blutenden Armstümpfen entgegen. Dann hörte ich einen lauten Schrei: "Die zwei Maschinisten sind tot!" Ich ging zu der Reling und schaute Richtung Küste. Ich sah, dass der ganze Strand übersät war mit Leichen und der helle Sand dunkelrot gefärbt war. Das Blut verbreitete sich bis in das Meer hinein und färbte das ganze Meerwasser an der Küste kilometerweit blutrot. Blut, . . . . . Blut . . . . . überall Blut. Auch auf dem Wasser trieben überall blutende Leichen.
Was ich an diesem Tag gesehen hatte, hat sich mir bis heute tief in meine Erinnerung gegraben.

Angekommen in meiner Firma, ging ich wie üblich an meinen Arbeitsplatz und verhielt mich ganz ruhig, wie alle anderen auch. Dann hörten wir die tägliche Propaganda des Regimes, die wir überall schon gehört hatten laut durch den Lautsprecher und im Anschluss daran wurde aus der Zeitung vorgelesen, die einzige Zeitung der Stadt, herausgegeben von der kommunistischen Partei Vietnams.
Bei einer Gelegenheit, zu der wir alleine waren, fragte ich Nhựt, einen Arbeiter in der Firma, der in der gleichen Situation war wie ich: "Werden wir das Paradies jemals erschaffen können?" "Ich glaube nie, das ist eine Illusion." Plötzlich erschraken wir durch eine Stimme hinter uns: "Aha, ihr seid hier!" Wir drehten uns um, das war Thu. Thu: "Doch, doch, das Volk hat ein Paradies geschaffen, aber nur für die ganze Oberschicht von Parteimitgliedern und Funktionären, schon vor 1954 in Nordvietnam. In der Öffentlichkeit präsentieren sie sich so einfach wie wir, aber in Wirklichkeit leben sie in einer Luxuswelt in Abgeschiedenheit von uns. Wir, das Volk, sind wie die pflügenden Wasserbüffel, die für sie das Luxusleben bereiten." . . . . . . . . Nhựt und ich waren erstaunt. Wir drei schauten uns dann gegenseitig wortlos an. "Ihr sollt vorsichtig sein, was ihr redet. Es gibt hier überall Ohren." Dann drehte Thu sich um und ging. Nhựt und ich gaben uns gegenseitig ein Zeichen mit den Augen, dann gingen wir wieder zu unserem Arbeitsplatz. Die 15 Minuten Mittagspause waren gerade vorbei.

Thu, ein Arbeitskollege in der Firma, war fast zehn Jahre älter als ich. Zum Ende der französischen Indochinazeit im Jahre 1954 wurde Vietnam geteilt und er war mit seinen Eltern nach Südvietnam geflüchtet. Die anderen Verwandten von ihm hatten sich für Nordvietnam entschieden, hatten sich den Kommunisten angeschlossen und waren dort sogar in höheren Positionen. Die Leute, die dem Kommunismus den Rücken kehrten, waren für diese ein Dorn im Auge. Nach dem 30. April 1975 wurden die wohlhabenden Nordvietnam-stämmigen wie Thu und seine Familie meist in die "neuen Wirtschaftsgebiete" abgeschoben. Aber durch die Bürgschaft seiner hochrangigen Verwandten aus dem Norden "durften" Thu und seine Familie nach kurzer Umerziehung in der Stadt bleiben, denn Thu war in der ehemaligen Republik Vietnam (Südvietnam) ein Verwaltungsbeamter gewesen.
Thu hat uns später auch erzählt, dass seine Verwandten vor der "Befreiung" von Südvietnam 1975 dachten, dass er und seine Familie dort in Armut und Elend wie Sklaven leben müssten. Als sie sich nach 1975 in Saigon wieder zusammengefunden hatten, waren die Verwandten von dem wohlhabenden Leben von Thu und seiner Familie sehr überrascht und erstaunt. Ihnen wurden mit der Wahrheit über die Lebenssituation in Nord- und Südvietnam die Augen geöffnet. Durch seine Verwandten aus dem kommunistischen Norden erfuhr Thu auch über die Lebensumstände im kommunistischen Norden, vom Leben der Armen und vom luxuriösen Leben der höheren kommunistischen Führungsriege. Es gab überall Korruption, Intrigen, Machtgier, Ungerechtigkeit . . . .

Das war eine Zeit . . . . . . vom Sturm zerstört

Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause ging ich entlang des Flusses zu der Fußgängerbrücke statt mit dem Fährboot über den Fluß überzusetzen. Tagsüber war es auf den Straßen immer menschenleer. Es gab nur Autos und Motorräder von den Funktionären und höheren Behördenangestellten zu sehen. Aber zu der Uhrzeit, zu der ich nach Hause ging, waren wie immer Menschen auf den Straßen zu sehen, so wie ich. Sie gingen nach der Arbeit in eiligem Schritt, Köpfe zum Boden gesenkt, und wollten schnell zu Hause sein. Viele von ihnen hatten einen stundenlangen Fußweg vor sich. Wie immer hörte man von ihnen keinen Ton, außer einem schweren Atmen oder einem gelegentlichen Husten. Nur die Geräusche der Schritte von abgenutzten Schuhen waren deutlich zu hören. Ab und zu fuhr jemand mit einem Fahrrad an ihnen vorbei und viele schauten dem Radfahrer hinterher. In ihren Augen konnte man schon ihre Gedanken lesen, vielleicht dachten sie so wie ich: "Wer hat so ein Glück? Ein Fahrrad!" Solche Gedanken waren bei den Menschen und auch bei mir vor dem 30. April 1975 überhaupt garnicht vorgekommen, weil jede Familie mindestens ein Fahrrad, wenn nicht sogar ein paar Motorräder gehabt hatte. Es gab damals andere wichtige und interessantere Sachen im Leben, mit denen man sich beschäftigt hatte.
Es war schon spät am Abend, es war aber noch hell und es gab plötzlich kein bisschen Wind mehr. Die Zeit war wie stehengeblieben, es war sehr stickig und ich bekam nur wenig Luft und fühlte mich nicht mehr so wohl. Ich ging mit leerem Magen in schnellem Schritt, wollte nur schnell zu Hause sein.
Ich kam an der Fußgängerbrücke an, eine hohe Brücke bestehend aus einer Metallkonstruktion, der Überweg mit Holzplanken belegt, die Lücken von 5 cm ließen. An beiden Ufern führten steile Treppen mit Holzplanken hinauf, zwischen den Stufen waren Lücken von ca. 20 cm. Eine Brücke, auf der ich schon als Kind ein sehr unsicheres Gefühl hatte, wenn ich durch die Lücken hinunter zum Fluss schaute. Mit ein wenig Vorsicht stieg ich nach oben. Auf der Mitte der Brücke drehte ich mich nach links und dann nach rechts und konnte fast den ganzen Fluss bis zum Horizont mit den beiden Uferseiten sehen. Die Lagerhäuser an den Ufern waren geschlossen. Die Schiffe an beiden Ufern waren seit Jahren nicht saniert worden und fast zerfallen, warteten immer noch vergeblich auf Waren zum transportieren.
Ich sah dann auch das Fährboot mit dem alten Ruderer. Obwohl es schon spät war und die Straßen schon fast leer, wartete der Ruderer immer noch in seinem alten Kahn auf Kunden. Der Ruderer hockte am Ende des Kahns, mit beiden Händen hielt er die beiden Knie an der Brust und sein Gesicht lag auf den Knien. Sein Kopf war bedeckt mit einem kaputten Nón Lá (ein Südvietnamesischer Spitzhut aus Palmenblättern), so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, nur die dünnen, knochigen Hände und Beine kamen zum Vorschein. Der alte Ruderer wartete und hoffte, dass vielleicht noch Fahrgäste kommen. Vielleicht hatte er an dem Tag noch keine Einnahmen gemacht, so dass er damit seinen Hunger stillen konnte.
Es war still, todstill, öde, heruntergekommen und verlassen. Eine trostlose Stimmung. In dem Moment war mir zum heulen zumute. . . . . . . traurig! Vor der sogenannten "Befreiungs"-Zeit waren die Lagerhäuser am Saigoner Hafen und an den Flüssen dauernd in Betrieb. Schiffe und LKWs waren dauernd im Einsatz. Die Warenträger waren dauernd damit beschäftigt, die importierten Waren aller Art, die Inlandprodukte, insbesondere Reis, in die Lagerhäuser einzulagern oder umgekehrt auf die Schiffe und LKWs zu bringen.
Ich konnte mich noch gut daran erinnern, dass während der Reis-Erntezeit in den südlichen Provinzen unsere Schiffe, wie auch die von anderen Firmen, dauernd im Hochbetrieb waren, oft bis in die Nacht hinein. Denn die Ernte sollte vom Süden rechtzeitig nach Saigon transportiert werden, weil die LKW der Überland-Speditionen schon darauf warteten, dass sie den Reis sofort in den Norden von Südvietnam bringen konnten. Die Schiffe sollten auch rechtzeitig Waren in den Süden transportieren und dann wieder die Reisernte nach Saigon bringen, um den Kreislauf zu schließen. Alles sollte pünktlich nach Zeitplan transportiert werden, denn die Reisernte musste vor der Regenzeit sicher in den Lagerhäusern sein. Im Notfall mussten die Schiffe auch leer in den Süden fahren, um schnell wieder Reis nach Saigon transportieren zu können.
In der Hochsaison ging mein Vater schon am frühen Morgen aus dem Haus, kam kurz zurück für ein gemeinsames Abendessen, dann ging er wieder und kam oft sehr spät in der Nacht nach Hause. Für meinen Vater war es am besten, wenn er vor Ort war, dort wo die Schiffe waren, um, wenn etwas nicht wie geplant lief, es sofort regeln zu können. Ab und zu fuhr mein Vater auch in den Süden, um die Lage zu beobachten, und um die Transporttermine mit den Bauern abzustimmen.
Ab und zu war ich noch am späten Abend zu diesem Fluss gekommen, um den Schiffen und den Arbeitern zuzusehen. Aus der Höhe der Fußgängerbrücke konnte man von oben sehr gut fast alles betrachten: Die beiden Ufer, wo Schiffe und LKW waren, wurden hell beleuchtet. Die Warenträger arbeiteten in einem für mich sehr interessanten Rhythmus. In den kleinen Zwischenpausen saßen die Arbeiter zusammen, sie erzählten und lachten, in dem Moment hatten sie vielleicht vergessen, dass der Aggressor aus dem kommunistischen Vietnam Gefahr für den Wohlstand bedeutete. Die Menschen arbeiteten hart, aber sie waren glücklich oder wenigstens zufrieden, weil sie durch ihre Arbeit etwas zum Leben hatten. Das war eine Zeit, eine Zeit, die ich . . . . . . . . .. . Es bewegte sich irgendetwas in der Luft. . . . . . . . . . Ja, plötzlich kam der Wind wieder, aber er wehte sehr heftig, ein warmer Windstoß, so stark, dass ich mich an der Eisenkonstruktion des Geländers festhalten musste. Unten an den beiden Flussufern wirbelte der Sand und der Staub ganz hoch. Die Kopfbedeckung des Fährmannes flog in einem Kreis durch die Luft. Am Horizont bildeten sich dunkle Wolken und sie verbreiteten sich ganz schnell, flogen auf mich zu in Richtung Stadtmitte. Die dunklen Wolken wurden rasch größer und größer, flogen schneller und schneller, hingen tiefer und tiefer, eine ungeheuerliche Stimmung. Ich fühlte mich davon bedroht. Sofort stieg ich von der Brücke hinunter, indem ich mich mit beiden Händen am Geländer festhielt und mit vorsichtigen Schritten die Stufen nahm.
Auf der Straße hielt ich mein Hemd mit den Händen fest, Kopf nach unten gesenkt und ging einfach weiter. Der starke Wind wirbelte den Staub immer höher und höher, ein paar Gegenstände wurden mit nach oben geschleudert und landeten wieder auf der Straße, ein alter kaputter Bastkorb nicht weit von mir. Ich hörte plötzlich die mir bekannte Stimme eines Jungen: "Großer Bruder Yi, komm zu uns, hier hinein!" Es folgte dann die Stimme einer Frau: "Ying Yi, es ist im Moment zu gefährlich draußen, komm zu uns hier hinein!" Das waren die Stimmen von Tante Thắng, der Frau von Onkel Phạm Văn Thắng und ihrem Sohn Trung. Es war schon spät, ich hatte zu lange Zeit auf der Brücke verbracht. Meine Eltern machten sich bestimmt schon Sorgen um mich, aber bei dem Wetter konnte ich mich nicht weiter auf den Heimweg machen.
Die Familie von Onkel Thắng und unsere hatten sich schon lange Zeit nicht mehr gegenseitig besucht, weil, gleichgültig was man tat, man fühlte sich beobachtet, insbesondere wenn man sich gegenseitig traf und würde dann schnell in Verdacht geraten. Deswegen lebten viele Leute sehr isoliert. Oft wenn ich nach der Arbeit am Haus von Onkel Thắng vorbeilief, sah ich, dass Tante Thắng hinter der halb geöffneten Haustür stand und auf ihren Mann wartete. Wenn unsere Blicke sich trafen, dann winkten wir uns gegenseitig unauffällig mit einer kleinen Handbewegung zu.
Als ich bei Tante Thắng eintrat, fragte sie mich sofort wie es meinen Eltern ging, und erzählte, dass sie sich viele Sorgen um ihren Mann machte. "Seitdem er in der Ziegel-Fabrik arbeitet, kommt er sehr spät nach Hause und dazu noch zu unbestimmten Zeiten. Ich mache mir wirklich Sorgen!" Ich merkte, dass sie mir vertraute, sonst hätte sie mir das nicht erzählt. Dann sagte ich: "Aber die Fabrik ist auch weit außerhalb der Stadt. Es gibt viele Leute, die arbeiten noch weiter entfernt von hier und müssen sich dazu noch sehr früh am Morgen auf den Weg machen und sind oft erst kurz vor Mitternacht zu Hause." Tante Thắng: "Ich hoffe, dass ihm nicht irgendetwas passiert ist. Vor zwei Tagen wurden wieder Leute in der Fabrik festgenommen, hat er mir erzählt, weil sie irgendetwas kritisches über den Vorgesetzten geäußert hatten." Mit einem leisen Ton sagte ich: "Gleichgültig wo wir arbeiten, sie werden uns dauernd unter Druck setzen, Ängste schüren, und wir müssen gehorsam sein. Weil wir für sie die Leute aus dem ehemaligen Südvietnam sind, die Reaktionäre . . . . . . . . . . Sorgen gibt es überall."
Nach ein paar Minuten Stille blickte Tante Thắng auf ihren Sohn Trung und erzählte: "Sein Vater hat von den Arbeitern in der Ziegel-Fabrik gehört, dass überall in den Läden, Fabriken, Firmen, bei den Behörden sogenanntes 'Tài sản Nhân Dân / Volkseigentum' dauernd gestohlen würde und für die Vorgesetzten sind die Täter immer 'die Reaktionäre unter uns.' " Ich musste Tante Thắng auch folgendes erzählen: "Neulich ist in meiner Firma eine Schreibmaschine und viel Schreibmaterial verschwunden und wer hatte sie gestohlen? Die eine Sekretärin. Natürlich, weil sie aus dem ehemaligen Südvietnam ist. Diese Frau würde es niemals wagen so etwas zu tun, das wissen alle Mitarbeiter wie wir und die "Genossen" wissen es auch. Die "Genossen" wissen es hundertprozentig, dass diese Sekretärin nicht gestohlen hat, aber einen "Genossen" konnte man nicht zum "Erziehungsarbeitslager" schicken, aber diese Sekretärin schon."
Der Wind wirbelte plötzlich wieder sehr stark draußen und zog durch die Ritzen der alten Tür und der Fenster in das Haus. Es gab ein Geräusch, wir sahen, dass ein Bild auf dem Ahnenaltar umfiel auf den Porzellanbehälter für Räucherstäbchen und ein wenig Asche flog aus dem Behälter heraus. Trung stieg sofort auf den Stuhl: "Das Glas ist nicht kaputt", sagte er. Seine Mutter: "Zum Glück!" Trung lehnte das Bild wieder an die Wand, dann betete er: "Opa, Oma bitte helft uns, dass wir gesund bleiben und Nöte von uns fern bleiben . . . . . . . . . ."
Der Altar sah kalt aus, ungewöhlich, kein Räucherstäbchen, keine Kerzen und auch keine Blumen in der Vase. Die Ahnen zu ehren ist für uns eine Tradition. Dass die Leute sich nicht mal mehr das mindeste für den Ahnenaltar leisten konnten, traurig, fühlte ich. Außerdem war es in der Zeit schwierig so etwas zu bekommen. Trotzdem hatte meine Mutter immer versucht wenigstens Räucherstäbchen zu bekommen, um die Ahnen zu ehren, auch wenn das sehr teuer und vom Regime nur geduldet war.
Tante Thắng: "Oft denke ich, dass es gut ist, dass die Eltern seines Vaters und von mir zu den Ahnen gegangen sind, sonst müssten sie das elende Leben wie heute noch erleiden." Tante Thắng fühlte anscheinend keinen Ausweg mehr in der derzeitigen Lebenssituation. Ohne lange zu überlegen redete ich plötzlich: "Gleichgültig was passiert ist, Tante Thắng, wir haben noch die Hoffnung!" . . . . . . . Trung schaute zu mir, als ob er mich etwas fragen wollte . . . . . . . . . ich sagte zu ihm: "Du sollst das nicht draußen weitererzählen, nicht vergessen, auch bei deinen Freunden nicht, es gibt überall 'Ohren'" "Ja, großer Bruder Yi, das weiß ich" anwortete Trung. Tante Thắng war etwas ruhiger geworden, aber die Sorgen konnte ich immer noch auf ihrem Gesicht ablesen und das würde wohl immer so bleiben.
Onkel Thắng war immer noch nicht zurück bei seiner Familie . . . . . . . . Es war wieder still draußen. Der Wind kam so plötzlich, genauso plötzlich verschwand er auch wieder. Die dunklen Wolken wurden auch vom Wind weggeblasen. Es gab wieder klaren Himmel und keinen Regenguss so wie ich befürchtet hatte, weil es oft so passierte. Ich musste nach Hause. Wir verabschiedeten uns und Tante Thắng sollte Onkel Thắng von mir grüßen.

Herrn Phạm Văn Thắng, für uns, die Kinder, Onkel Thắng, sah ich das erste Mal als ich noch ein Kind und er noch ein junger Mann war, in einem Lagerhaus. Das Lagerhaus gehörte einer der großen Importfirmen, bei der er als Verwalter arbeitete. Die Importwaren wurden von den Überseeschiffen direkt in die Flußschiffe umgelagert und dann in die am Fluss gelegenen Lagerhäuser in der Stadt gebracht. An einem Morgen wollten mein Vater, meine Schwester und ich in die Stadt gehen, aber zuerst gingen wir am Lagerhaus vorbei, um Onkel Thắng zu informieren, wann die Schiffe vom Saigoner Hafen ankommen, damit er rechtzeitig Warenträger organisieren konnte. Für den Inhaber des Lagerhauses war Onkel Thắng ein vertrauenswürdiger Arbeiter. Außerdem war er ein zuverlässiger, korrekter Lagerleiter in der Speditionsbranche.
Nach dem 30. April 1975 wurde aller Privatbesitz von dem kommunistischen Regime beschlagnahmt. Die Lagerhäuser wurden streng bewacht. Nach dem Aufruf des kommunistischen Regimes meldete sich auch Onkel Thắng vorschriftsgemäß bei den Behörden und wurde daraufhin zu einem Umerziehungsarbeitslager geschickt. Warum? Wir und die anderen Freunde und Bekannten von ihm wissen es bis heute immer noch nicht. Onkel Thắng war kein Soldat der ehemaligen Republik Vietnam (Südvietnam), weil er war das einzige Kind, das noch bei den Eltern gelebt hatte und die waren über siebzig, deswegen war er vom Armeedienst befreit worden. Ein Beamter war er auch nicht. Vielleicht weil er mit westlichen Waren zu tun hatte, die bei den Funktionären und Behördenangestellten sehr begehrt waren? Nach einem Jahr in dem Lager wurde Onkel Thắng strafversetzt zum Stadtreinigungsamt, um "den Wert der ehrlichen Arbeit zu erkennen". Täglich bis zu sechzehn Stunden musste er einen Müllwagen ziehen und die Straßen kehren. Nach zwei Jahre dann arbeitete Onkel Thắng in der Ziegel-Fabrik.
Onkel Thắng hatte drei Kinder. Die zwei älteren waren Töchter, verheiratet und bereits außer Haus. Der Sohn Trung war oft zusammen mit Tấn, dem Sohn unserer Nachbarin, Tante Năm, um auf die Straße gefallene Reiskörner vor den Lagerhäusern zu sammeln.

Aus der Ferne sah ich, dass meine jüngste Schwester aus der Terassentür trat, als sie mich sah, ging sie wieder sofort hinein ins Haus. Ich glaube, meine Eltern waren schon sehr unruhig wegen meiner späten Rückkehr. Hinter der Terassentür stand bereits meine jüngste Schwester, sie machte die Tür sofort auf als ich ankam. Gerade als ich ins Haus hinein kam, fragte meine Mutter sofort: "Ist irgendwas passiert?" "Nein, nichts ist passiert!" antwortete ich. Meine Mutter wollte mir irgendetwas erzählen, aber mein Vater meinte, es wäre besser, wenn ich mit dem Essen fertig wäre. Alle hätten schon gegessen und ich sollte nun damit anfangen.
Nach dem Essen erfuhr ich, dass in der letzten Nacht mehr als zehn Nachbarn, die in der Gasse hinter unserem Haus wohnten, festgenommen worden waren. Darunter waren auch zwei in Vietnam geborene mit chinesischer Abstammung, so wie ich. Deren inzwischen verstorbene Mütter waren früher oft bei uns, um meiner Mutter Gesellschaft zu leisten. "Haben die Leute erzählt, warum sie verhaftet wurden?" fragte ich. Meine Mutter: "Frau Tâm erzählte, dass ihr Mann tagsüber nur zufällig mitgehört hatte, als er an ein paar Männern vorbeiging, die sich unterhielten, aber er sei dann weitergegangen. Trotzdem wurde auch er später verhaftet." "Die hatten über 'Reform-Öffnung' von chinesischer Wirtschaft und Politik geredet und hofften, dass auch Vietnam diesen Weg gehen würde. Was die wirklich genau geäußert hatten, konnte Frau Tâm nicht sagen . . . . . . . Wie kann man sich über so etwas vor der Haustür unterhalten! Das war leichtsinnig!" sagte mein Vater. Die Polizei hatte die Häuser der Leute in der Nacht gestürmt und sie verhaftet, das bedeutet, dass ein Spion der Polizei Hinweise gegeben haben musste.

Im Teufelskreis der Ungerechtigkeit

Anfang des Jahres 1979, fast vier Jahre nach dem 30. April 1975, wurden allein in unserer Nachbarschaft schon sehr viele Menschen verhaftet. "Wieviele Nachbarn werden noch zu Opfern des Regimes?" Der Gedanke ging durch meinen Kopf. Zuerst Onkel Sáu, der schräg gegenüber von uns wohnte. Er lief täglich mehrere Male bei Tag oder Nacht auf die Straße und beschimpfte das Regime als Mörder nach dem sogenannten Tag der "Befreiung von Südvietnam". Es dauerte nur ein paar Tage, dann wurde er festgenommen und kurze Zeit später wurde er wieder freigelassen. Als Tante Sáu und die Tochter Linh ihn nach Haus zurückgeholt hatten, war er noch stärker traumatisiert. Der Onkel war total verwirrt und hatte auf seinem Körper überall Wunden. Sobald seine Frau, seine Tochter oder irgendjemand ihm näher kamen, schrie er laut in Angst und Panik: "Lasst mich in Ruhe, lasst mich in Ruhe, ihr Teufel . . . . ihr Mörder!" Es dauerte nur vier Tage, dann war Onkel Sáu gestorben. Ein Nachbar: "Er war in der Hölle!"
Es folgte dann Herr Lê, der rechts von unserem Haus an der Kreuzung zur Hauptstraße wohnte. Er war ein qualifizierter Auto-Mechaniker und nach dem 30. April 1975 arbeitete er in der Autoreparatur- Werkstatt der Stadt. Seine Frau erzählte: "Seine Vorgesetzten gaben meinem Mann immer die Schuld, wenn bei der Reparatur etwas nicht gelungen war. Obwohl mein Mann immer nach seiner Anweisung reparieren musste und nicht etwa nach der eigenen Kenntnis, die mein Mann in über zwanzig Jahren gesammelt hatte." Auch Herr Lê klagte bei seinen Kollegen und Nachbarn von der ungerechten Behandlung durch seinen Vorgesetzten: " . . . . . . . 'Cán Bộ Nhà Nước / Genosse des Staates' mit Ingenieur-Titel, aber keine Ahnung. . . . . . ." Um "Achtung gegenüber Vorgesetzten" zu lernen und zur Bestrafung wegen der Zerstörung des "Tài sản Nhân Dân / Volkseigentums" wurde er in das Umerziehungs-Arbeitslager transportiert.
Ein anderer Herr Lê, wohnte in einer Gasse hinter unserem Haus, ein ehemaliger Arzthelfer und Krankenpfleger. Schon vor dem 30. April 1975 hatte er immer Kontakt zu Menschen, die auf seine Hilfe angewiesen waren, besonders zu alten und kranken Menschen. Er wurde auch verhaftet . . . . . . . . . . Die alten und kranken Leute, und die, die oft mit ihm Kontakt hatten, sollten sich alle bei der Polizei melden. Als diese Leute nach mehreren Stunden vom Polizeipräsidium zurück nach Hause kamen und erfuhren, dass Herr Lê festgenommen worden war, waren sie schockiert. Er wurde verhaftet wegen "Hetzen gegen die Regierung." Obwohl sie im Polizeipräsidium dauernd gefragt wurden und sie immer geanwortet hatten mit "Nein, Herr Lê hat uns nicht gegen die Regierung aufgehetzt auch nicht gegen jemand anderen." . . . . . . . Nach mehreren Stunden Befragung sollten die "eingeladenen Gäste" ein Protokoll unterschreiben oder einen Fingerabdruck geben, dann könnten sie wieder nach Hause gehen. Die "eingeladenen Gäste": "Wir waren so erschöpft und wollten nur schnell nach Hause . . . . . . . . .", "Wir haben alle Fragen wahrheitsgemäß beanwortet, . . . . . . das hätte wir nicht gedacht . . . . , dass Herr Lê . . . . ." Einige von ihnen waren wortlos, sie machten sich in dem Moment Gedanken, wie es nun mit ihnen weiter gehen sollte, weil Herr Lê nicht mehr für sie da war. Einer der Nachbarn zu den anderen: "Ja, . . . ja es kann auch so passieren, ganz einfach!" Alle waren sehr besorgt und nachdenklich.
Es gab in unserer Nachbarschaft noch viele uns bekannte und unbekannte Menschen, die dasselbe oder ein ähnliches Schicksal wie die oben genannten Nachbarn hatten. Sie wurden abtransportiert in ein Gefängnis, Umerziehungslager oder Strafarbeitslager, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Tante Năm, die rechte Nachbarin von uns: "Wir werden überall ausspioniert und überwacht. Es ist die Hölle auf Erden!" Sie ging fast nicht mehr aus dem Haus, wenn, dann nur zu uns. Jedesmal wenn ihr Mann zur Arbeit ging oder die Kinder das Haus verließen, erzählte sie, dass sie die Familienmitglieder dauernd erinnern musste: " 'Nichts gesehen', 'Nichts gehört', und immer den Mund halten." . . . . . . . . In nur ein paar Jahren unter dem neuen Regime hatte sich das Leben der Bürger des ehemaligen Südvietnam so stark geändert. Das Leben der Menschen wurde von Sorgen, Angst und Bedrohung überschattet.

" . . . . . die Seele eines Menschen in einen Käfig zu sperren . . . . . . "

Seit meiner Jugendzeit, gab es für mich nichts schöneres als das innerliche Gefühl freizulassen und auf dem Papier sichtbar zum Ausdruck zu bringen. Die meditativen Geräusche von Tuschestein, der auf dem Reibestein reibt und von Mineralfarben, die im Mörser gemörsert werden in einem unverwechselbaren Rhythmus, die Struktur des handgeschöpften Xuanpapiers in Kontakt mit der Tusche und den Mineralfarben. Es ist wie ich mit dem Gefühl in Berührung gekommen und später ist das auch wie meine eigene Religion geworden, für mich heilig! Aber nach der sogenannten "Befreiungszeit", ab 30. April 1975, musste ich diese Religion tief in meinem Herzen bewahren und selbst kontrollieren, dass sie nicht äußerlich in Erscheinung trat.

"Văn hóa, nghệ thuật cũng như mọi hoạt động khác không thể đứng ngoài, mà phải ở trong kinh tế và chính trị / Kultur, Kunst sowie andere Aktivitäten können nicht draußen stehen, sondern müssen in der Wirtschaft und Politik sein." - Hồ Chí Minh (wörtlich übersetzt).

Das heißt: Kultur, Kunst sowie andere Aktivitäten müssen mit Wirtschaft und Politik in einer Einheit zusammengeführt sein.

Unter dem Regime "sind Kunst und Literatur verpflichtet der Politik der Partei und der revolutionären Regierung zu folgen und dienen." Das bedeutet, die Künstler haben keinen Freiraum für ihre Arbeiten, sie müssen in ihren Werken der vorgegebenen Richtung und den Themen der vietnamesischen kommunistischen Partei und deren Regime folgen. Die Künstler sind für das Regime nur ein Werkzeug für ihre Propaganda. Andernfalls sind sie Reaktionäre, Individualisten, Spione für den Kapitalismus oder Landesverräter und die Folge daraus war dann wie bei den Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern im Fall "Nhân Văn - Giai Phẩm / Humanistisch-Meisterwerk", passiert im Jahr 1958 in Nordvietnam.
Thu, ein Mitarbeiter in der Firma hatte Nhựt und mir von dem Fall der "Nhân Văn - Giai Phẩm / Humanistisch-Meisterwerk"-Bewegung erzählt, so wie er es von seinen Verwandten, den Parteifunktionären und Zeitzeugen aus dem ehemaligen Nordvietnam erfahren hatte: Die Bewegung, eine Bewegung ohne Organisation, Führung und ohne Mittel. Die Bewegung verlangte von dem Regime Demokratie, Kultur in Volksnähe, freien Raum für Literatur und Kunst, indem diese an die Künstler zurückgegeben würden. Mit Begeisterung wurde die Bewegung von der Bevölkerung begrüßt, die nach einem freien Leben dürstete, ein Leben ohne strenge Kontrollen durch das Regime, stattdessen Demokratie.
Um ihre Macht zu sichern hatte die kommunistische Partei und deren Regime von der Zentrale aus, die Bewegung mit ganzer Kraft zerschlagen. Die fünfundvierzig Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler der Bewegung, unter ihnen waren auch Parteifunktionäre und -funktionärinnen der Kulturbehörde und Personen in Führungsfunktion bei der Armee, landeten dann für Jahrzehnte im Gefängnis oder im Umerziehungsarbeitslager. Nach der Freilassung wurden sie lebenslang von der Beschäftigung im Kunst- und Kulturkreis ausgeschlossen, ihre Werke wurden verboten. Dennoch wurden sie wirtschaftlich mit "Bao vây kinh tế / Wirtschaft umzingelt"-Maßnahmen weiter bestraft, das bedeutet dass sie wirtschaftlich isoliert wurden: Diese Personen durften nirgendwo für ihren Lebensunterhalt arbeiten und hatten keinen Zugang zu Lebensmitteln. Das bedeutet, dass sie gezwungen wurden, zu verhungern. Eine grausame Methode: Denn wenn man Hunger leidet, kann man nicht mehr viel denken und tun.
Noch dreißig Jahre lang hatte die Behörde nach Leuten gesucht, die die Bewegung unterstützten (auch nur geistig), mit ihr sympathisierten, ihr zujubelten oder die nur einmal einen "Gift"-Artikel der "Nhân Văn - Giai Phẩm / Humanistisch-Meisterwerk"-Bewegung gelesen hatten. Diese Leute wurden nach und nach verhaftet und verurteilt. Diese Leute waren einfache Menschen, Studenten und sogar Mitglieder der kommunistischen Partei. Viele wurden zu Unrecht verurteilt, weil sie mit der Bewegung garnichts zu tun hatten.
Es war so wie bei der "Cải cách ruộng đất / Agrarreform" in Nordvietnam von 1946 bis 1956. In der letzten Phase von 1953 bis 1956 wurden 172.008 reiche Bauern oder Landbesitzer sofort mit grausamen Methoden hingerichtet oder im Gefängnis zu Tode gefoltert. Im Jahr 1956 mussten Hồ Chí Minh und seine Partei öffentlich zugeben, dass von den 172.008 Getöteten 123.266 nicht reiche Bauern oder Landbesitzer waren. Das heißt 123.266 Menschen wurden zu Unrecht verurteilt, das sind 71,66 %. Der Schriftsteller Trần Mạnh Hảo, ein Zeitzeuge, in einem Interview mit dem Reporter Đinh Quang Anh Thái über die "Cải cách ruộng đất / Agrarreform" in Nordvietnam: " . . . . . . . . Die 'Cải cách ruộng đất / Agrarreform' ist eine Völker-Vernichtung wie bei Pol Pot und Ieng Sari (đã làm bên xứ chùa Tháp/ ausgeführt in Kambodscha) und ich war zu der Zeit Augenzeuge."

"Es ist so wie die Seele eines Menschen in einen Käfig zu sperren, wenn Gefühle, die Fantasie und die Meinung der Menschen nicht mehr frei laufen können, grausam!"
Anfang 1979, fast vier Jahre nach dem 30. April 1975 hatte ich mich nicht mehr mit meinem Bedürfnis nach Kunsttätigkeit beschäftigen können. Nach einem langen Arbeitstag hatte man nicht mehr die Zeit dafür, außerdem konnten die uneingeladenen "Gäste" jederzeit ins Haus herein kommen. Einmal wollte ich eine Idee, die ich schon lange Zeit hatte, zum Ausdruck bringen. Auf dem Tisch waren die Tusche, Farben und Papier schon vorbereitet und ich wollte gerade anfangen. Plötzlich erschien der Ortspolizist an der Kreuzung der Straße an der wir wohnten. Als meine Schwester ihn sah informierte sie mich sofort. Ich hatte sofort alles vom Tisch weggeräumt, mit Hilfe meines Vaters . . . . . . . . . . . . . Nachdem der Ortspolizist ein Haus in der Nähe der Kreuzung "besucht" hatte, ging er noch in Richtung unseres Hauses, dann bog er plötzlich in eine Gasse ab. Er kam an diesem Abend nicht zu uns, wie wir befürchtet hatten . . . . . . . Mein Vater: "Ein Porträt von Hồ Chí Minh oder Bilder zu Ehren der "Beifreiungsarmee" zu malen wäre kein Problem gewesen. Aber du solltest dich nicht beschäftigen mit etwas, was gegen deine Seele ist und wovon dein Gefühl nicht überzeugt ist, denn diese sind das kostbarste Eigentum eines Menschen" . . . . . . . Ein anderes Mal war ich in der Stimmung zu malen, trotz des schon späten Abends. Meine Schwester erklärte, dass sie aufpassen würde, ob uneingeladene "Gäste" kommen. Als ich anfangen wollte alles zum Malen vorzubereiten, fühlte ich mich plötzlich von der ganzen Situation eingeengt. In so einer Lage fühlte ich mich nicht frei und konnte nicht die ganze Konzentration auf die Kunst lenken . . . . . . . . . . Auch damit meine Familie keine zusätzlichen Probleme bekam, bewahrte ich mir meine Ideen und Lust zu malen. Ich musste sie unter Kontrolle bringen . . . . . . bis irgendwann . . . . wenn ich sie freilassen konnte.
Ein Gedanke ging mir durch den Kopf: "Wie geht es ihnen?" Meinen Freunden von damals, Kollegen im Künstlerkreis, inbesondere den Meistern und den Professoren, die ich gut kenne. Sie lebten meistens im Stadtzentrum oder an der anderen Seite der Stadt, so dass ich sie in dieser Situation nicht besuchen konnte. Ich konnte nur hoffen und wünschen, dass sie alle einen Ausweg in dieser Lebenssituation finden würden.

Sehnsucht

Ich erinnere mich, dass ich mich Ende 1974 noch im Dienst des Militärs in einem Küsten- und Flusstransportschiff an der Küste von Rạch Giá befand. An dem Abend als das Schiff dort ankam, befand sich die Küste in dichtem Nebel. Früh am nächsten Morgen stieg ich von der Schlafkabine auf das Schiffsdeck, der Nebel war nicht mehr so dicht aber den Horizont konnte man noch nicht erkennen. Langsam wurde es hell und heller. Weil sich das Festland hinter dem Horizont befand, erschien in den Lichtstrahlen des Morgenrots nur eine Insel, die Insel Hòn Tre. Das Morgenrot wechselte den Farbton als die Sonne am Horizont aufging, und die Insel befand sich in einer außergewöhnlichen Stimmung. Sie wirkte geheimnisvoll aber friedlich, magisch aber harmonisch. Es sah so aus, wie der Ort nach dem ich mich immer gesehnt habe! Ein Ort fern von Kriegen, wo man in Abgeschiedenheit und friedlich leben kann. In meiner Erinnerung so wie in der Erzählung "桃花源記 (Táohuāyuán jì) / Pfirsichblütenquell" des berühmten chinesischen Dichters 陶渊明 (Tao Yuanming, 365-427) . . . . . . . . . . Ich fragte mich dann: "Wo gibt es so einen Ort? Es gibt ihn vielleicht wirklich irgendwo! . . . . . . . . Nein, so einen Ort gibt es nirgendwo! Es war nur eine Fantasie, denn Kriegsführung gehört leider zu der natürlichen Eigenschaft der meisten Menschen . . . . . . . " Dann hoffte ich, das meine Einstellung über die Menschen falsch war. Aber ich befand mich gerade mitten in einer Kriegslage und war nun doch sehr verzweifelt.
Auf den Befehl des Marinehauptquartiers musste das Schiff an der Küste von Rạch Giá auf eine neue Aufgabe warten, statt wie sonst nach Saigon zurück zu fahren. Dadurch spürten die Kameraden und ich, dass die Lage der Nation schon sehr ernst geworden war. Die Tage auf dem Schiff an der Küste kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Obwohl wir schöne Sonnenaufgänge und -untergänge betrachten konnten, fühlten wir uns sehr eingeschränkt, weil wir nicht an Land gehen durften und konnten. Wir waren auch seit Monaten nicht bei unseren Familien - Sorgen! Ich hatte in der Zeit so eine Sehnsucht nach zuhause und hoffte, dass der Krieg bald zu Ende ginge, um mich dann in einem normalen Leben wieder mit meiner Künstlertätigkeit zu beschäftigen.
Anfang 1975 befand sich unser Schiff gerade in Đà Nẵng in der Bucht von Cam Ranh. Das war auch die Zeit, in der der Krieg sich in einer heftigen Phase befand. Die Kameraden und ich spürten, dass der Krieg sich dem Endstadium näherte. Frieden! . . . . Frieden! . . . . . . . das wünschten und hofften alle Menschen in der ehemaligen Republik Vietnam (Südvietnam). Frieden! . . . . Frieden! Plötzlich wurde meine innerliche Fröhlichkeit und hoffnungsvolle Stimmung von einem Schatten verdunkelt, und zwar sehr bedrohlich . . . . . . . . ich befürchtete . . . . . . . eine schlimme Zeit würde vor uns liegen . . . . . .

Wie ich befürchtete . . . . .

Im Jahr 1972 besuchte Richard Nixon, der Präsident der USA, im Rahmen der Ping-Pong-Diplomatie China, und China hoffte, dass dadurch auf der Welt Spannungen abgebaut werden könnten. China ist immer die Meinung, dass "im Krieg keine Seite gewinnt, sondern beide Seiten verlieren"! Seit dem Besuch hielt das kommunistische Nordvietnam China für einen Verräter und einen Feind der Arbeiterklasse. In dieser Zeit hörten die Leute in Südvietnam, wie z.B. mein Vater, heimlich den Radiosender von Nordvietnam, in dem nur noch schmutzige und primitive Schimpfworte für China, USA und den Westen benutzt wurden. Nach dem 30. April 1975, im Jahr 1978 öffnete China dem Westen die Tür und brachte dem Land die "改革開放 (gaige kaifang) / Reform und Öffnung" in Wirtschaft und Politik gegenüber der Welt. Nun hörte man noch deutlich dreister Schimpfworte über China und den Westen auch im Fernsehen. Schimpfworte, die man sonst nur von Zuhältern, Prostituierten, Banditen oder von primitiven, kulturlosen Leuten gehört hatte.

Nach dem Besuch des amerikanischen Präsidenten in China im Jahr 1972: Die Menschen in der Republik Vietnam hofften, dass Nordvietnam bald verlieren würde, wenn es nun keine Unterstützung mehr von China bekäme. Es passierte dann aber genau umgekehrt, weil Amerika seine Soldaten im Jahr 1973 nach USA zurückzog und Südvietnam nicht mehr unterstützte. Die Menschen aus dem Süden hatten ihr Land trotz heldenhafter Verteidigung verloren. Am 30. April 1975 hatten die Kommunisten, der Aggressor, durch Unterstützung der Sowjetunion, den Krieg gewonnen und den Norden und Süden Vietnams für wiedervereinigt erklärt. Das ist die heute sogenannte Sozialistische Republik Vietnam.
Anfang 1979 nutzte Vietnam die innere unruhige Lage in Kambodscha um auch Kambodscha zu "befreien" und besetzte dann das Land. Das hatte internationale Empörung ausgelöst.
In der Beziehung zu dem großen Bruder, der Sowjetunion, die Vietnam die Rückendeckung gab, marschierte Vietnam weiter nach Laos und besetze auch dieses Land. Als nächste Ziele plante Vietnam auch noch Thailand und Myanmar anzugreifen, später auch andere asiatische Länder. Die Nachbarn sollten unter der Kontrolle des machtvollen Vietnam stehen und damit gegen den ehmaligen großen Bruder China. Vietnam möchte unbedingt die rechte Hand der Sowjetunion in Südostasien werden.
Die Sorgen um Krieg verbreiteten sich in den Nachbarländern von Vietnam. Das Königreich Thailand sympathisierte plötzlich mit dem kommunistischen China und hoffte, das China das Vorhaben Vietnams verhindern würde.

Wie man weiß, gab es in China zu Zeiten des Vietnamkrieges eine Hungersnot. Trotzdem hatte China das kommunistische Nordvietnam und seine verbündeten Việt Cộng-Marionetten in Südvietnam ununterbrochen mit Nahrung und Waffen unterstützt. Gemeinsam kämpften sie seit 1954 dafür, dass ganz Vietnam ein kommunistisches System werden sollte. Nachdem die Kommunisten Nordvietnams die Republik Vietnam (Südvietnam) im Jahre 1975 eingenommen und Vietnam für vereint erklärt hatten, verbündete sich die neue Regierung nur noch mit der Sowjetunion und brach die Beziehung zu China ab. Vietnam weigerte sich, mit dem reformierten China zusammenzuarbeiten, weil China nun der Erbfeind der Arbeiterklasse war.
Als Vietnam versuchte, seine Macht in Asien zu verbreitern, provozierten sie China gleichzeitig durch ständige Grenzverletzungen. Vietnam drohte damit, dass es im Bündnis mit der starken Sowjetunion China jederzeit vernichten könne. China war als Straf-Aktion für den undankbaren ehemaligen Kriegsverbündeten Vietnam im Februar 1979 über die Grenze von beiden Länder in Vietnam einmarschiert, um ihnen eine Lehre zu erteilen. Nach ein paar Wochen hatte China sich dann wieder zurückgezogen. Das war eine Warnung für Vietnam.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass in der Zeit des Grenzkrieges das vietnamesische kommunistische Regime in dauernder Wiederholung erklärte, das es den Krieg gewinnen würde. Als Reaktion darauf glaubten die ehemaligen Bürger der Republik Vietnam (Südvietnam) aber das Gegenteil. Sie wünschten, dass China das vietnamesische kommunistische Regime aus Rache für sie zerschlagen würden. Viele von ihnen äußerten sich wie z.B.: "Bị đánh tơi bời mà miệng còn oang oác / sie wurden total zerschlagen, aber haben immer noch das große Maul"

Die zweite Not

"福無雙至, 禍不單行 (Fú wú shuāng zhì , huò bù dān xíng) /Glücksfälle kommen nie zu zweit, Unglücke passieren nie allein" –王羲之 (Wang Xizhi, 303-361)

Nach der warnenden Strafaktion durch China im nördlichen Gebiet von Vietnam an der Grenze zwischen beiden Ländern im Jahr 1979, wurden Vietnamesen mit chinesischen Wurzeln vom vietnamesischen kommunistischen Regime diskriminiert und bedroht. Sie wurden dann plötzlich fälschlicherweise auch noch vom Regime beschuldigt als Spione für China zu arbeiten.
Im ehemaligen Nordvietnam lebten Vietnamesen mit chinesischen Wurzeln schon seit mehreren Generationen. Verursacht durch das strenge Verbot der Ausübung von Traditionen und Religion, verhängt vom vietnamesischen kommunistischen Regime, sprach von ihnen fast keiner mehr Chinesisch, weil sie ihre Muttersprache inzwischen verlernt hatten. Außerdem war Russisch die wichtigste Fremdsprache des Landes.Trotzdem wurden sie zur chinesischen Grenze vertrieben und nach China abgeschoben. Viele andere wurden sofort erschossen oder ins Gefängnis abtransportiert. Unter ihnen waren auch Mitglieder der vietnamesischen kommunistischen Partei.

Als der Kriegsverbrecher Japan China angriff, wehrlose Zivilisten massakrierte, nichts und niemanden verschonten, auch Kinder nicht, flüchteten meine Eltern schon als Kinder aus dem Land. Am Ende landeten sie im Süden von Vietnam in der Zeit von Französisch-Indochina, dort wo die Chinesen mindestens schon seit dem Jahr 1600 lebten. Im Jahr 1954 wurde Vietnam durch das Genfer Abkommen geteilt und der Süden von Vietnam wurde fortan Republik Vietnam oder Südvietnam genannt. Schon in der ersten Republik Vietnam mussten meine Eltern die vietnamesische Staatsangehörigkeit annehmen, so wie fast alle anderen Chinesen, um sich an der Wirtschaft des Landes beteiligen zu dürfen. Außerdem ging es für die Chinesen auch um die Wehrpflicht, um die Republik Vietnam zu verteidigen. Bei einer Weigerung mussten die Chinesen das Land verlassen. Aber weiterhin wurden die eingebürgerten Neu-Vietnamesen als Chinesen angesehen.
Die Chinesen bauten Tempel, Schulen und Krankenhäuser in den Städten. In Saigon, wo meine Familie seit 1957 lebte, gab es mehr als ein Dutzend chinesischer Schulen, von "小学(xiaoxue) / Grundschule" über "中学(zhongxue) / Mittelstufe" bis zur "高中(gaozhong) / Hochschule", die Lehrbücher der Schulen waren aus Taiwan. Danach konnte man dann an einem taiwanesischen Fernstudium teilnehmen. Außerdem gab es auch eine spezielle Schule für alte, chinesische Literatur und Geschichte. Es gab fünf große chinesische moderne Krankenhäuser gebaut und finanziert durch die Spenden von reichen Chinesen (diese hatten schon seit 1954 die vietnamesische Staatsangehörigkeit). Nicht wohlhabende Menschen jeder Herkunft wurden dort kostenlos behandelt.
Wie schonmal erwähnt hatten nach dem 30. April 1975 die wohlhabenden Vietnamesen, sowie die chinesisch-stämmigen Vietnamesen, in der ehemaligen Republik Vietnam das gleiche Schicksal. Ihr gesamtes Privateigentum wurde vom kommunistischen Regime beschlagnahmt. Wer zu den Kapitalisten gehörte und vor dem 30.4.1975 nicht rechtzeitig das Land verlassen hatte, landete dann im Gefängnis, Umerziehungs-Strafarbeitslager oder wurde in eins der "Vùng Kinh Tế Mới / Neue Wirtschaftsgebiete" abgeschoben und wartete dort auf den Tod.
Für die chinesisch-stämmigen Vietnamesen folgte dann die zweite Not, als der Krieg an der Grenze zwischen China und Vietnam im Jahr 1979 ausbrach. Die Chinesen aus der ehemaligen Republik Vietnam sind Kapitalisten, hatte aber keine Verbindung mit der kommunistischen Volksrepublik China, sondern damals nur mit der Republik China (Taiwan). Sie wurden trotzdem vom Regime auch als Spione für die Volksrepublik China verdächtigt, so wie die im Norden. Viele von ihnen wurden verhaftet und gefoltert. Manche wurden wieder freigelassen, von vielen hatte man jedoch nichts mehr gehört. Überall, zum Beispiel wo wir wohnten, erschienen fremde Leute. Sie wohnten in den Häusern der Bewohner, die von der Verhaftung nicht mehr zurückgekehrt waren. Man merkte, dass die Fremden Leute des Geheimdienstes waren. Sie kamen nicht nur, um die wieder freigelassenen sondern um die gesamte Bürgerschaft zu beobachten. Das schürte überall Angst, nicht nur unter den Chinesen, sondern auch unter den Vietnamesen, die in der ehemaligen Republik Vietnam lebten.
Es folgte dann, dass Menschen, die erkennbar chinesischer Abstammung waren, auf offener Straße von den aggressiven und gewalttätigen Menschengruppen mit Holz- oder Eisenstangen geschlagen, mit Steinen oder mit allem, was sie zufällig gerade fanden, beworfen wurden. Auch Frauen und Kinder wurden nicht verschont. Sie rannten den wehrlosen Chinesen hinterher und schrieen laut Dinge wie: "Tod den Juden, den Juden . . . . . . tötet sie . . .töten", "Die sind Juden, ertränkt sie, verbrennt sie!", "Ja, ertränkt sie . . . verbrennt sie." Einige schrieen: "Die sind Juden, die Juden, die nehmen uns alles weg . . . . verbrennt sie, verbrennt sie, ertränkt sie, ertränkt sie . . . ." Es floss Blut bei den Chinesen, aber nicht nur manche Leute sondern auch die Polizisten hatten zugeschaut und geklatscht!
Eine Mitarbeiterin rannte mit blutigem Gesicht und mehreren Verletzungen am Körper in die Firma, in der ich arbeitete. Sowas war vorher schon viermal passiert. Vorher waren männliche Mitarbeiter in der gleichen Situation wie ich, die ehemaligen Bürger der Republik Vietnam, aber die sind den aggressiven und gewalttätigen Menschengruppen entkommen und wurden nicht so schwer verletzt. Die Mitarbeiterin erzählte, dass sie auf dem Weg zur Arbeit war. Hinter ihr wurden Menschen von dutzenden Leuten gejagt und sie wurden als Juden beschimpft. Sie konnte nicht schnell genug zur anderen Straßenseite wechseln, befand sich dann mitten in der Menschengruppe und wurde ebenfalls brutal geschlagen. Die Mitarbeiterin war eine Vietnamesin, auch Bürgerin der ehemaligen Republik Vietnam. Einige Kollegen hatten ihr geholfen, die Wunde zu verbinden. Alle Mitarbeiter, die wie ich dieselbe Herkunft hatten, waren sehr besorgt. Die Anderen, darunter auch die Oberschicht der Firma, zeigten keine Reaktion, sie blieben gelassen.

Seit einer Woche war es heiß. Die Arbeiter in der Firma hatten fast alles einen Fächer oder irgendetwas anderes in der Hand um sich Luft zuzufächeln. Die noch an der Decke hängenden Ventilatoren drehten sich nicht, sie standen still, als ob sie uns, die Arbeiter, provozieren wollten. Ja! Nicht nur die Ventilatoren, sondern auch viele andere Einrichtungsgegenstände des Gebäudes funtionierten nicht mehr als die Firma eingezogen war. Die Hitze war unerträglich. Alle arbeiteten schwitzend, aber die Arbeit musste erledigt werden. Gut, dass das Gebäude eine höhere Decke hatte, sonst wäre es noch unerträglicher.
Das Gebäude der Firma ist eines von einigen Gebäuden, die in der Französischen Koloniezeit gebaut wurden, an beiden Seiten des Flussufers entlang. An den Flussufern lagen auch viele Lagerhäuser. Die Gebäude waren Anfang der Siebziger Jahre von einigen chinesischen Firmen saniert worden und dienten damals als Bürohäuser. Ich erinnerte mich, dass ich früher schon einmal in so einem Bürohaus war. Es war für die Arbeiter ein Luxus in so einem Gebäude zu arbeiten: gut eingerichtet und mit vielen zu der Zeit modernen Bürogeräten ausgestattet. Nach der Beschlagnahme am 30. April 1975 durch das kommunistische Regime wurde es von den "Befreiungs-Soldaten", Genossen, wie überall, geplündert, alles was möglich war wurde abmontiert und mitgenommen. Von den Gebäuden blieb fast nur noch der Rohbau übrig.
Thu kam hinunter zu meiner Abteilung ins Erdgeschoss, mit einem Taschentuch in der Hand und putzte dauernd den Schweiß vom Gesicht und seiner Brille. Er brauchte Informationen für seine Abteilung zur Planung. Dann fragte er mich: "Warst Du schon auf der hohen Fußgängerbrücke, nicht weit von hier? Man soll von oben den ganzen Fluss, unsere Firma und die Schiffe sehen können, es muss sehr schön sein.", "Ja!" anwortete ich. Mit leisem Ton sagte er: "Nhựt kommt auch mit. Bis nach der Arbeit" dann drehte er sich um und ging. Obwohl zu der Zeit in der Abteilung nur Mitarbeiter in derselben Situation wie wir waren, hatte man trotzdem ein unsicheres Gefühl und Thu war immer sehr vorsichtig. Außerdem waren Privatversammlungen streng verboten.
Die Hitze verbrannte fast die Haut, wenn man in der Sonne stand. Deswegen blieben die Mitarbeiter in den fünfzehn Minuten Mittagspause meistens in der Firma. Kurz danach kam es plötzlich zu einem starken Regenguss. Alle freuten sich über ein wenig Abkühlung. "Bei dem Regen auf der Brücke zu stehen?", ich machte mir schon Gedanken über unser Treffen. "Was hatte Thu für Neuigkeiten?" fragte ich mich. Aber es war wie für uns geplant: Der Regen hatte nach ca. einer dreiviertel Stunde aufgehört. Der Himmel war wieder klar und die Temperatur stieg . . . . . . . . . und die Hitze kam wieder . . . . . . . . .

Gespräch unter Vertrauten

Wie immer, nach der Arbeit war es schon spät Abends, aber der Himmel war noch hell. Nach einem hitzigen und anstrengenden Arbeitstag wollten alle Leute schnell nach Hause gehen. Die Straßen waren wieder voller Menschen im hektischen Tempo. Thu, Nhựt und ich waren in einem zeitlichen Abstand aus der Firma und zu der Brücke gegangen. Ich schätzte, dass Thu uns irgendwelche Neuigkeiten erzählen wollte.
Wir waren gerade oben auf der Fußgängerbrücke, da hatte Thu sofort Nhựt und mich gefragt: "Habt ihr Bücher über Hitler und die Juden gelesen?" Nhựt: "Ja, früher haben ich und meine Frau viel davon gelesen. Mein Frau war sehr wissbegierig auf die Geschichte und hat viele Bücher zu dem Thema gekauft." "Ich habe zwei davon gelesen während des Militärdienstes." Ich sprach sofort weiter: "Warum werden Chinesen als 'Juden' beschimpft. Wie kommt es, dass sowas passiert? Ihr wisst was ich meine?" Thu: "Ja, meine Frau und ich haben sich auch solche Fragen wie du gestellt, aber dann haben wir festgestellt, dass es überall auf der Welt unzufriedene Leute in der Gesellschaft gibt. Wenn sie ihre Ziele nicht erreichen können, dann sind immer die Anderen schuld, insbesondere gilt das bei den ungebildeten oder faulen Leuten. Manche unter ihnen sind auch noch so dumm, dass sie sich sogar haben ausnutzen lassen, aufgehetzt für bösartige Ziele. Die erfolgreichen und reichen Leute wurden auch schon in der kapitalistischen Gesellschaft von manchen Leuten nicht gemocht, um nicht von Neid und Hass zu sprechen. Diese Leute behaupteten, das ihnen die Chancen und der Erfolg von Anderen weggenommen wurden, deswegen wurden sie nicht so reich wie die Anderen oder sie sind arm . . . . . . Nicht nur viele Chinesen arbeiten hart und fleißig für ihr Vermögen, sondern auch die erfolgreichen und reichen Vietnamesen, wie z.B. meine Familie."
Die Frage blieb, warum die Chinesen und nicht die Vietnamesen der ehemaligen Republik Vietnam als "Jude" bezeichnet werden. Nhựt: "Weil China zurzeit der Erbfeind des Regimes ist, und das ist ein Grund, warum das Regime gegen die Chinesen hetzt und 'Jude' gerufen wird. Hitler wird als Vorbild angesehen." Thu: "Wie wir wissen, waren auch viele Juden sehr erfolgreich und reich, weil sie intelligent und noch fleißig waren. Deswegen gab es die Kristallnacht und dann später wurde das ganze Judentum in Europa systematisch vernichtet." Thu weiter: " . . . . . . . . . Mit den Schreien 'Ertränkt sie, verbrennt sie', ihr wisst schon, weil es hier üblich ist, nachdem man die Ratten im Käfig gefangen hat, sie mit Spiritus zu übergießen und dann lebendig zu verbrennen oder im Fluss zu ertränken." Thu hatte auch gemeint, dass das Regime die Ungebildeten, Dummen, sowie die unzufriedenen Leute in der Gesellschaft ausgenutzt und aufgehetzt hat. Weil das Volk in der Zeit unter elenden Bedingungen lebte und das Regime erklärte, dass ist nun das Erbe der kapitalistischen Ex-Regierung, gemeint waren die "Ausbeuter", die vom Westen beeinflusst wurden, darunter sind auch die Chinesen. Die aufgehetzten und ausgenutzten Leute erwarteten vom Regime, dass sie Vorteile wie die "30.4." bekämen oder eine höhere Position in der Behörde. Diese Leute und die Geheimpolizei tarnen sich überall als normale Bürgergruppen. Sie provozieren gegen China, indem sie die wehrlosen Chinesen in Vietnam als "Jude" bezeichnen und so Rache üben. Das Regime wollte damit auch der Welt zeigen, dass das nicht mit der Regierung zu tun hatte, sondern ein Aufstand des Volkes sei. Nhựt: "Noch ein Grund, warum die Chinesen als Judenfreunde beschimpft wurden. Ich glaube, weil China das einzige Land der Welt war, in das Juden bedingungslos, ohne Visum eingereist sind, bevor Hitler 6 Millionen Juden in Europa vernichtet hatte. Dadurch hatte China vielen Juden das Leben gerettet. . . . . . Es waren . . . . .es waren . . . . Ja, nur in Shanghai waren es 20.000 Juden" "Unvorstellbar! So grausam können Menschen sein." Ich bekam Gänsehaut. Nhựt: "So ist es!"
Nach einem Moment der Stille hatte Nhựt dann nach den Verwandten von Thu gefragt, die 1954 in Nordvietnam geblieben und Mitglieder und Funktionäre der kommunistischen Partei geworden sind. Thu: "Nachdem sie die Wahrheit über die 'Befreiung' selbst erfahren haben, sind sie innerlich unzufrieden aber äußerlich müssen sie so tun als ob . . . . . . . . Sie sind in derselben Lage, wie es das chinesische Sprichwort formuliert: '骑虎难下 (qi hu nan xia) / Wenn man bereits einen Tiger reitet, ist es schwierig abzusteigen' Ich erfuhr auch von meinen Verwandten, dass das Regime zugeben musste, einen Fehler gemacht zu haben: Nämlich, dass sie die Kapitalisten in den Tod getrieben hatten und dann erfuhren, dass diese Menschen irgendwo einen anderen Teil ihres Vermögens, wie Goldbarren, US Dollar, usw. versteckt hatten und dieser Schatz nicht mehr geholt werden konnte. Wie ich glaube, werden die noch lebenden Chinesen aus dem ehemaligen Süd-Vietnam nicht so wie die Chinesen im Norden in Massen umgebracht oder nach China vertrieben werden. Weil ihr Leben für das Regime einen hohen Kapitalwert hat, denn das Regime braucht jetzt diese versteckten Schätze. Aber sobald es den Schatz in die Hände bekommen hat, dann . . . . . . . . ihr könnt es euch schon vorstellen. Aber wir wollen hoffen, dass dieser Zeitpunkt nicht kommen wird. Das gilt für alle Volksgruppen, die ein verstecktes Vemögen haben." Wir waren wortlos.
Nhựt sagte dann: " Die ganze Judenjagd-Aktion ist bestimmt nur der erste Schritt eines Planes, um den Chinesen Angst zu machen. Es folgt dann bestimmt etwas schlimmeres: Folter, bis die Leute aussagen, wo ihr Vermögen versteckt ist." . . . . . Ich war wie gelähmt, als ich das hörte. Wie können Menschen so grausam sein!
Bei so einem Treffen mussten wir ein Risiko mit einkalkulieren, deswegen passten wir trotz des intensiven Gespräches immer auf, ob jemand auf die Brücke stieg. Bei so einem Gespräch vergeht die Zeit schnell, es war fast eine Stunde vorbei, seit wir uns auf der Brücke getroffen hatten. Thu hatte unser Treffen vor drei Tagen geplant, Nhựt hatte er bereits vorab davon erzählt. Ich hatte davon erst gewusst ein paar Stunden bevor wir uns an dem Tag trafen, als Thu Gelegenheit hatte mit mir zu sprechen. Die Frage war, ob meine Familie sich Sorgen um mich machte, wenn ich spät nach Hause kam, denn wir wollten noch ein wenig Zeit auf der Brücke verbringen. Ich wohnte nicht so weit von dem Treffpunkt entfernt und wir wussten nicht, ob so ein Treffen in nächster Zeit noch möglich ist. Wir hatten dann entschieden noch ein kurze Zeit zu bleiben.
Wir betrachteten die Flusslandschaft von oben, von beiden Seiten der Brücke, bis zum Horizont und Nhựt, mit einem bedauernden Tonfall: "Ich kann mir vorstellen, dass die Flusslandschaft hier früher sehr schön gewesen sein muss . . . ." "Ja, es war eine Zeit, eine schöne Zeit . . . . . Auf dieser Brücke war auch der Treffpunkt junger Liebespaare bei Sonnenuntergang" erzählte ich. Thu: " Das war bestimmt sehr romantisch . . . . . . . aber leider . . . .", dann sagte Thu mit einem erstaunten Ton: "Aber schau mal! Ein Kahn mit einem Ruderer . . . . eine Fähre!" "Ja, das ist eine Fähre, die gibt es seit mehr als zwanzig Jahren" erzählte ich. Thu: "Wie kann unter diesem Regime noch so eine private Fähre existieren? . . . . . . . Es muss ein Spion des Geheimdienstes sein!" Ich erklärte: "Es war immer derselbe Ruderer. Wenn, dann wurde er vielleicht vom Geheimdienst gezwungen mit denen zu arbeiten." . . . . . . . . .Ein paar Minuten lang war es still und wortlos zwischen uns. Dann verabschiedeten wir uns kurz, bevor die Straße menschenleer war, in der Befürchtung, dass wir uns vielleicht nicht mehr so in diesem Rahmen treffen könnten. Auf der Straße waren noch viele Arbeiter auf dem Heimweg, so dass wir wenigstens ein sicheres Gefühl hatten.

Nachdem ich zu Hause angekommen war, erzählte ich zuerst meiner Familie kurz über das Treffen mit Nhựt und Thu, dann fing ich mit dem Abendessen an. Während des Essens hörte ich aus dem Vorzimmer, dass Tante Sáu, die schräg gegenüber von uns wohnte, zu Besuch kam. Nach dem Essen ging ich ins Vorzimmer und begrüßte sie. Meine Mutter: "Tante Sáu hat gesehen, dass du spät nach Hause kamst und wollte wissen, ob bei dir irgendetwas passiert ist." Ich dankte Tante Sáu für ihr Mitgefühl. Sie hatte sehr abgenommen, seit ich ihr das letzte Mal vor ein paar Monaten auf der Straße begegnet war.
Tante Sáu kam selten zu uns, aber meine Mutter traf sie regelmäßig, weil meine Mutter Gruppenvorstand von zehn Familien war. Sie musste die Leute darüber informieren, dass sie zu den Versammlungen der Organisation der kommunistischen Partei und Behörden kamen. Tante Sáu sprach fast nichts an den Abend. Sie war sehr traurig. Auch von dem Tee, den meine Mutter ihr brachte, hatte sie nur zwei Schlucke getrunken. Tante Sáu machte sich Sorgen um die Zukunft ihres jüngsten und einzigen noch lebenden Kindes, der Tochter Linh, die noch bei ihr lebte. Die anderen vier Kinder von ihr waren durch den Krieg gestorben, so wie ihr Mann, er starb kurz nach dem 30. April 1975. Die Tochter Linh wurde schon vor vier Jahren, vor der Übernahme Südvietnams durch die Kommunisten, auf Wunsch ihres Vaters, mit einem jungen Mann verlobt und kurz danach sollte das Liebespaar heiraten. Die Hochzeit war nicht zustande gekommen wie geplant, weil die kommunistische Übernahme so plötzlich kam und es Trauer gab in beiden Familien. Tante Sáu hatte bei dem letzten Treffen mit meiner Mutter erzählt, dass als ihr Mann noch schwer krank war, die Tochter so bald wie möglich heiraten sollte. Aber es kam dann schneller als die Familie befürchtet hatte . . . . . . . ihr Mann starb. Die Verheiratung wurde dauernd verschoben, obwohl sie bei den Behörden schon fast vor zwei Jahren beantragt wurde. Trotzdem sie zwei Mal von den zuständigen Behörden zur "Befragung eingeladen" wurden, bekamen sie immer noch keinen Heiratstermin, vermutlich weil die Behörde unzufrieden über das "Geschenk" war. Außerdem kam auch für eine kleine private Hochzeitsversammlung noch keine Erlaubnis.
Tante Sáu: "Ich weiß nicht, wie lange ich noch bei ihr bleiben kann. Und bevor ich zu ihrem Vater gehe, möchte ich, dass sich jemand um sie kümmert. Dann kann ich in Ruhe gehen." Dann brach sie fast in Tränen aus. Mein Vater: "Wir hoffen es nicht, aber, Schwester Sáu, wenn ihnen irgendetwas ungückliches zustößt, wir sind noch da. In Notfall, könnten wir und unsere engen Nachbarn unter uns für beide als Trauzeugen einer privaten Heirat dienen. Es kann nur eine einfache Hochzeit geben aber wenigstens sind die beiden dann schon verheiratet." Meine Mutter: "Außerdem hat Long auch eine Schwester. Zusammen werden wir schon alles schaffen." Tante Sáu war still und wir spürten, dass sie durch das Gespräch mit uns nicht erleichtert wurde und immer noch Sorgen hatte.
Nach ein paar Minuten sagte sie: "Was zurzeit draußen überall passiert, ich kann das nicht verstehen, die Leute rufen laut Sachen wie . . . ." Tante Sáu hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, plötzlich hörten wir jemanden meine Mutter rufen: "Große Schwester, Große Schwester können sie mir die Versammlungs-Termine nochmal sagen, der Tấn weiß sie nicht mehr ganz genau." Meine Mutter ging sofort zur Terrassentür, und während sie die Tür öffnete, redete meine Mutter wie Tante Năm auch ein wenig lauter als sonst: "Kommt rein ins Haus, ich schreibe die Termine auf. Wir haben in diesem Monat noch eine besondere Versammlung . . . . ." Tante Năm kam nicht wegen der Versammlungs-Termine. Als sie mit meiner Mutter ins Haus kam und Tante Sáu sah, grüßte sie zuerst Tante Sáu dann sprach sie zu meinen Eltern: "Mein Mann und ich möchten die Sorgen von euch teilen, was zurzeit draußen passiert ist unfassbar . . . . . so ungefähr ist es auch zu Anfang bei den Juden in Europa passiert." Tante Sáu: "Von Juden habe ich früher noch nichts gehört! Wie ist das gemeint?" Mein Vater versuchte Tante Sáu zu erklären: "Vor dem 30. April 1975 hatten wir, die ehemaligen Bürger der Republik Vietnam noch unsere Religion ausgeübt, wie den Buddhismus, viele Gottheiten der Mythologie, den Islam, den Hinduismus und das Christentum. Aber das Judentum gibt es hier nicht und die Chinesen, die hier leben, sind auch keine Juden. . . . . Bis vor der Gründung des Staates Israel, wenn ich mich recht erinnere am 14. Mai 1948, lebten alle Juden verteilt in vielen Ländern der Welt, z.B. auch in Kaifeng China." . . . . . . Nach ein paar Minuten erzählte mein Vater weiter: "Als Hitler, Führer der Nationalsozialisten in Deutschland, an die Macht kam, griff er die Nachbarländer an und später hatte er in Europa die massenhafte Vernichtung der Juden angerichtet. Das bezeichnet man als 'Holocaust' . . . . . . " Bei der Erzählung kam meinem Vater die traurige Vergangenheit in Erinnerung und er musste innehalten. Tante Sáu hörte die Geschichte mit voller Konzentration. Sie war ganz still und wartete darauf, dass mein Vater weiter erzählte.
Nach einer kurzen Unterbrechung erzählte mein Vater weiter: "Nicht nur in Europa, zur gleichen Zeit bei uns, in Asien, passierte auch bei den Menschen das ganz schlimmste, brutalste, furchtbarste, unmenschlichste und ungeheuer grausamste. Als der Aggressor, der Kriegsverbrecher Japan, ein Bündnis mit Nazideutschland einging und China und Asien angriff. Dabei wurden Millionen von Zivilisten und Kriegsgefangenen gezielt von der kaiserlich japanischen Armee ermordet. Alleine in Nanking, China, hatten die Kriegsverbrecher der japanischen Besatzer mindestens 300.000 wehrlose Zivilisten, daunter waren auch Frauen, Kinder, Säuglinge und Kriegsgefangene, massakriert. Rund 80.000 Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt, dann hatten sie sie mit noch grausameren Methoden sterben lassen. So etwas grausames und unmenschliches passierte überall in China, deswegen sind wir aus dem Land geflüchtet, bevor die Japaner in unserer Provinz im Süden Chinas ankamen . . . . " Die traurige Erinnerung spiegelte sich im Gesicht meiner Eltern wieder und sie konnten kein Wort mehr sprechen. Es war still im Zimmer.
Nach circa zehn Minuten sagte Tante Năm mit einem traurigen Ton: "Ich habe gelesen, dass etwa 20.000 Ärzte der japanischen Armeeeinheiten während des Zweiten Weltkrieges Experimente an Menschen unternommen hatten. Zahlreiche Menschenversuche, unter anderem die Erprobung von biologischen und chemischen Waffen, wurden an lebenden Menschen durchgeführt. Die Japaner haben die Vorstellung, dass die eigene Rasse höherwertig ist, als alle anderen, so wie auch die Nazis in Deutschland. Die anderen Völker wurden als minderwertig betrachtet, die nur einen dienenden Nutzen hatten. Deswegen wurden nicht nur an Asiaten, sondern auch an amerikanischen, britischen und australischen Kriegsgefangenen Experimente durchgeführt. Die chemischen und biologischen Waffen waren schon im zweiten Weltkrieg im Einsatz . . . . ." Tante Năm brach plötzlich ihre Erzählung ab. Es war wieder still im Zimmer. . . . . . Dann, mit einer leisen Stimme, erzählte Tante Năm weiter: "Nicht nur Frauen, sondern auch kleine Mädchen wurden vergewaltigt . . . . . . Meine jüngste Tante . . . . . sie war erst dreizehn Jahre alt . . . . Meine Oma hatte erzählt . . . . Es blutete und blutete, sie schrie laut und lauter um Hilfe . . . . aber . . . aber die Japaner hatten nur gelacht und . . . . gelacht. Diese Barbaren . . . . ." Tante Năm brach in Tränen aus, weil sie es nicht mehr aushalten konnte. Meine Mutter und Tante Sáu hatten sofort Tante Năm in den Arm genommen . . . . . Tante Năm: "Meine Großeltern und die anderen Tanten mußten mitansehen, wie meine jüngste Tante langsam qualvoll gestorben ist."
Wie man weiß, Frauen und Mädchen, die gut aussahen, wurden nach der Vergewaltigung am Leben gelassen und mussten den japanischen Kriegssoldaten des Zweiten Weltkrieges als "Trost-Frauen" sexuell dienen. Sie mussten täglich bis zu 30 Soldaten befriedigen. Viele starben nach einer kurzen Zeit. Folter, Massentötungen, Kannibalismus, Vergewaltigung, auch Massaker an alliierten Soldaten, und . . . . und . . . . . . . für die kaiserlich japanische Armee war das an der Tagesordnung . . . . . . . Es herrschte eine traurige Stimmung unter uns.
Tante Sáu unterbrach plötzlich ihre Stille: "Früher, als wir noch die Obstplantage hatten, hatten die Amerikaner in einer von uns entfernten Gegend auch ein flüssiges Mittel von Flugzeugen aus versprüht. Trotz der weiten Entfernung kam die Flüssigkeit durch den starken Wind als Nieselregen bis in die Nähe unserer Obstplantagen. Es passierte dann, dass sich am Rande der Obstplantagen Teile der Obstbäume gelb verfärbten und dann starben und viele Meschen Gesundheitsprobleme bekamen. Die Bäume der Gegend, in der gesprüht wurde, sind alle gestorben, nicht ein Baum war noch am Leben, es ist auch nichts mehr nachgewachsen und dort leben auch keine Tierarten mehr." Tante Năm: "Das war das sogenannte 'Agent Orange'!" Tante Sáu: "Es wird erzählt, dass jedes in der Gegend geborene Kind Missbildungen habe, manche sehen nicht wie Kinder von Menschen aus, sondern wie . . . . . . . . . . . ." Tante Năm: "Wenn man das Wasser in der Gegend und in der Umgebung trinkt, und wenn man isst, was auf dem Boden gewachsen ist, dann bleibt das Gift für immer im Körper. Es betrifft nicht nur die neugeborenen Kinder, sondern auch die Menschen selbst bekommen Behinderungen." "Als ich damals noch im Dienst des Militärs der ehemaligen Republik Vietnam war, erfuhren wir, dass die Amerikaner Agent Orange nutzten um den Wald zu vernichten, dort wo sich die Việt Cộng versteckten. Die damalige vietnamesische Regierung hatte eine Erklärung von der US-Armee erhalten: Die Bevölkerung der Umgebung würde keine Probleme damit haben, Agent Orange wäre für Menschen unbedenklich. Dann kam die Wahrheit heraus! Und schlimmer als man sich das vorstellen konnte."
Tante Sáu hatte ihre Sorgen endlich frei ausgesprochen: "Ich dachte, meine Tochter hat endlich . . . . . . aber . . . . .", der Satz war noch nicht zu Ende, aber sie brach fast in Tränen aus. Meine Mutter hatte plötzlich ihre Situation verstanden und schaute zu meinem Vater, dann zu Tante Năm: "Long ist von chinesischer Abstammung, deswegen hat Schwester Sáu Sorgen um die Zukunft ihrer Tochter." Tante Năm wollte Tante Sáu trösten, aber sie fand keine Worte . . . . . . . Nach einer kurzen Weile sagte mein Vater: "Wir kennen die chinesische Philosophie des Taoismus mit dem Symbol Yin und Yang. Die Gegensätze des Symbols deuten an, dass es nichts Absolutes auf der Welt gibt, in der wir leben. Es gibt Böses, aber auch Gutes, Fröhlichkeit und auch Traurigkeit, es gibt Leute, die uns hassen, aber auch Menschen, die uns lieben, Menschen, die uns neiden und Menschen, die uns gönnen . . . . . . . Zum Beispiel: Nicht nur China hatte seine Tore geöffnet, um die Juden vor Hitler zu retten, sondern auch andere Menschen hatten das gleiche getan. Ein anderer Fall, John Rabe, ein deutscher Kaufmann bei Siemens in China, hatte viele chinesische Zivilsten vor Massakern, sowie systematischen Vergewaltigungen der Kaiserlich Japanischen Armee (im Bündnis mit Nazi-Deutschland) gerettet . . . . . . In der jetzigen Situation sollten wir wachsam sein, nur Trauer kann uns nicht helfen." Tante Sáu schien nach den Äußerungen meines Vaters ihre Lage etwas im Griff zu haben.
Die Zeit verging schnell, vor dem Abschied hatte Tante Năm noch hinzugefügt: "Ich habe gelesen, dass die Japaner von rassistischen Ideologien angetrieben werden und allein in China mindestens 15 Millionen wehrlose Zivilisten getötet haben, in den Philippinen, Malaysia, Vietnam, Kambodscha, Indonesien, Burma 30 Millionen. Es gibt kein Wort das zu beschreiben. Diese Kriegsverbrechen sind auch bekannt als 'Asiatischer Holocaust'."
Meine Mutter brachte die beiden Besucher zur Terassentür. Es war eine schöne harmonische Atmosphäre mit Mondschein draußen. Die beiden Besucher und meine Mutter waren an der Terassentür stehengeblieben, als sie die ruhige Atmosphäre draußen spürten. Die Dächer der Häuser, die Blätter und Zweige der Bäume empfingen das Mondlicht und ihre Schatten erschienen harmonisch mit dem Mondlicht auf dem Boden. Hinter dem ehemaligen Hobbygarten unserer Familie, der zu der Zeit schon vom Regime beschlagnahmt und noch nicht zugebaut war, wurde der Mondschein vom Himmel im Fluss gespiegelt, er glänzte wie ein strahlender Teppich aus Silber. Meine Mutter und beide Frauen schauten sehnsüchtig auf den Mond mit seinem hellen Schein am Himmel und ich fühlte sofort, dass sie alle drei eine gleiche Sehnsucht hatten: Ein harmonischen Leben mit ihren Männern und Kindern . . . . . Dann . . . . gerade als meine Mutter die Terrassentür öffnen wollte, stieß Tante Năm meine Mutter leicht an. Meine Mutter hatte sofort reagiert: "Schwestern, vergesst die Versammlungstermine nicht." "Nein, nein, ich habe jetzt den Zettel, auf dem alle Versammlungstermine stehen." "Dann sehen wir uns bei den Versammlungen" hatte meine Mutter noch hinzugefügt. Meine Mutter öffnete die Terrassentür und Tante Năm und Tante Sáu verließen unser Haus.
Meine Mutter und ich gingen hinein ins Haus und sie machte sich Sorgen darum, was gerade an der Terrassentür passiert war. Aber mein Vater hatte meine Mutter beruhigt: "Ich glaube, dass ihr richtig reagiert habt. Wenn die Besucher das Haus flüchtig verlassen hätten, hätte ein Verdacht entstehen können!" Es war als meine Mutter die Terrassentür für Tante Năm und Tante Sáu öffnen wollte. Schräg gegenüber unseres Hauses an der anderen Seite der Straße, entdeckten wir im Schatten eines Hauses jemanden, der dort stand und uns irgendwie beobachtete. Als meine Mutter und Tante Năm über die Versammlungstermine gesprochen hatten, war er schnell gegangen. Meine Mutter hatte meinem Vater erzählt, was passiert war und machte sich darum Sorgen. Mein Vater hatte zu meiner Mutter später noch gesagt, um ihr die Sorgen zu nehmen: "Vielleicht wollte die Person jemanden heimlich außerhalb deren Hauses treffen, weil es im Hause ungünstig war. Es war vielleicht ein Zufall und er macht sich auch Sorgen, weil ihr ihn entdeckt habt." Meine Mutter: "Wir hoffen, dass es so ist!"

Tante Sáu und ihr verstorbener Mann waren Analphabeten, geschätzt waren das mehr als siebzig Prozent der Menschen, die unter französischer Kolonialherrschaft aufgewachsen waren. Es gab wenige oder fast keine Schulen in den ländlichen Gegenden, inbesondere in kleineren Dörfern. Unter anderem waren politische Äußerungen auch verboten. Aus diesem Grund hatten sie, wie die anderen auch, wenig Wissen über internationale Politik, sowie über das eigene Land, auch mangelte es diesen Menschen am Allgemeinwissen. Sie konzentrierten sich nur noch auf die tägliche schwere Arbeit in der Hoffnung davon für den Tag satt zu werden. Menschen in so einer Situation konnten die Kolonialherrscher besser kontrollieren. In der Zeit gab es schon chinesische Privatorganisationen, die dafür sorgten, dass die Nachkommen die chinesischen Traditionen behalten und die chinesische Sprache weiter sprechen und schreiben sollten. Auch sorgten sie dafür, dass Ahnen-Tempel gebaut wurden und dazu auch Schulen, zuerst die "小学/Grundschule." Erst in der ersten Republik Vietnam hatte der Präsident Ngô Đình Diệm ein Gesetz herausgebacht, dass den Schulbesuch zur Pflicht machte, mindestens bis zum Grundschul-Abschluss. Dann gab es später in den großen Städten auch chinesische Schulen bis zum "高中/Gymnasium" und die Möglichkeit zum Fernstudium in Taiwan.

Die neuen Anhänger des "Führers"

Bis circa 1972 war in der Republik Vietnam, wo ich lebte, das Wissen über Hitler und Deutschland zu Zeiten des Nationalsozialismus nur sehr oberflächlich, die meisten wussten nicht mal wie Hitler aussah. Von Juden hörte man auch sehr selten. Der Grund dafür war: im Jahr 1858 begann in Vietnam die französische Kolonialherrschaft, unter der Bezeichnung Französisch-Indochina (Vietnam, Kambodscha und Laos). Es gab zahlreiche Aufstände von den Vietnamesen, aber alle wurden von den französischen Kolonialherrschern niedergeschlagen. Dann kam die Besatzungszeit von Japan, im Bündnis mit Hitlerdeutschland. Nachdem Japan im Zweiten Weltkrieg kapituliert hatte, kamen die französischen Kolonialherrscher zurück. In den Jahren von 1946 bis 1954 versank Vietnam wieder im Krieg, dem Indochinakrieg. Es gab noch kein Ende, es kam dann der Vietnamkrieg, genannt "Amerikanischer Krieg" von 1955 bis 1975. Nicht nur in Vietnam, sondern Menschen in vielen Ländern Asiens, mussten gegen das am eigenen Leib erfahrene elende Leben kämpfen. Europa war für die meisten Menschen in Asien damals weit weg, . . . . . sehr weit und man bekam nur wenige Informationen darüber . . . . . . . . . . .
Im Jahr 1972, während der Kriegszeit des "Amerikanischen Krieges", wurden viele Bücher über Hitler übersetzt, von großen Verlagen herausgebracht und erschienen überall auf dem Büchermarkt. Ich war damals noch im Armeedienst und diente im Marine-Hauptquartier in Saigon. Jedesmal wenn ich in die Verlagshäuser, Bücherläden oder auf die Bücher-Boulevards in der Hauptstadt ging, sah ich reichlich Bücher mit dem Thema Hitler, überall Hitler, Hitler und . . . . . . Hitler. Viele Bücher über das Thema wurden sogar mehrfach neu aufgelegt. Zwei davon hatte auch ich gekauft um genau zu wissen wer Hitler wirklich war!
Mitten in der Kriegszeit, während die Soldaten an der Front ihr Leben opferten zur Verteidigung der Republik Vietnam (Südvietnam), diskutierten die Leute im Hinterland über Hitler und den Zweiten Weltkrieg. Die Leute, die Hitler verehrten, waren meist Studenten oder Leute, die keine Sorgen hatten, weil sie oder ihre Verwandten nicht im Armeedienst waren. Dennoch wurden diese Leute auch von dem Feind (den vietnamesischen Kommunisten) gesteuert, und demonstrierten auf den Straßen von Saigon gegen die Regierung der Republik Vietnam. Die Meinungen über Hitler waren sehr umstritten, ab und zu kam es zu Handgreiflichkeiten. Begonnen wurde diese fast immer von den Hitler-Anhängern.
Erstaunlich war, dass man nach dem 30. April 1975 erfuhr, dass ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung des ehemaligen kommunistischen Nordvietnam nicht Stalin, sondern den Führer Hitler aus Deutschland mehr respektierte. Es ist auch unglaublich, aber wahr, dass die Leute, die nach dem 30. April 1975 geboren wurden, heute, im 21. Jahrhundert, zu mehr als sechzig Prozent von Hitler fasziniert sind und seinem Weg auch in Vietnam folgen. Insbesondere die jüngeren Leute, meistens sind das Studenten. Sie sind der Meinung, wenn das Land so einen Führer wie Hitler gehabt hätte, wäre das vietnamesische Volk nicht von Kolonialherrschern wie zuletzt Frankreich versklavt worden und Vietnam wäre jetzt ein mächtiges Land und hätte mindestens eine führende Position unter den asiatischen Ländern, wenn nicht sogar in der Welt. Manche sind der Meinung, dass die Verbeugung vor den Touristen, besonders vor denen aus dem Westen, das freundliche Dienen um sie zufrieden zu stellen, eine Form der modernen Sklaverei ist, eine Unterwerfung und nichts anderes wie im Vietnam unter der Kolonialherrschaft. Nicht nur die oben genannten Leute, sondern auch die vietnamesischen lamaistischen Buddhisten des Landes, auch die, die im Ausland leben, wünschten, dass Vietnam einen Führer wie Hitler hätte. Nur so kann das Land Vietnam mächtig werden und der Bevölkerung Wohlstand gebracht werden. Sie glauben fest, dass Hitler wiedergeboren wird, weil er unsterblich ist, wie der im indischen Exil lebende Dalai-Lama von Tibet . . . . . . Diese Leute glauben auch: "Die Verbindung, ein Wunder, war schon vorgesehen durch Heinrich Harrer, Mitglied in der Sturmabteilung (SA) der Schutzstaffel (SS) und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Berater und Lehrer des Dalai Lama. . . . . . das Wunder wird geschehen, Hitler wird wiedergeboren, nicht irgendwo, sondern in Vietnam." . . . . . . Ich war nicht nur wortlos, sondern bekam auch eine Gänsehaut, als ich das durch Erzählungen hörte. Wunder hatte ich schon mal erlebt, aber ganz andere, als von ihnen vorgestellt. Ich musste mich schon fürchten, wenn ich mich an das Sprichwort erinnerte "Glaube kann Berge versetzen". . . . . . . . . .

Der erste Anblick des "Führers"

Eine Erinnerung an eine Begebenheit habe ich noch heute, damals als ich noch an einer privaten Oberstufen-Schule in Saigon und noch keine fünfzehn Jahre alt war. Von Hitler wussten meine Schulkameraden und ich sehr wenig.

Wie fast immer versammelten wir uns auf dem Schulhof bis kurz vor dem Unterrichtsbeginn, dann erst gingen wir in die Klassenzimmer. Hưng, ein Schulkamerad von uns kam und erzählte in einem aufgeregten Ton: "Ich weiß, wie Hitler aussieht." "Nein . . . . . wirklich?" fragte einer von uns nach. Hưng: "Nein, noch nicht, aber ich habe eine Anzeige eines Briefmarkensammler-Geschäfts gelesen. Es bietet Briefmarken mit dem Porträt von Hitler an. Ich möchte mir die umbedingt ansehen. Kommt ihr mit?" "Ja, wann?" Hưng: "Direkt nach der Schule!" Die Neugierde der Schulkameraden konnte niemand mehr stoppen, alle neun von uns wollten mitkommen.
Ich ging normalerweise auch ab und zu zu meinem Briefmarkensammler-Geschäft um zu sehen was es neues gab, aber eine Briefmarke mit dem Porträt von Hitler hatte ich noch nicht gesehen. In Wirklicheit war ich kein Briefmarkensammler. Mir ging es um Briefmarken mit den Abbildungen von Kunstwerken des chinesischen Schatzes im Nationalen Palastmuseums (國立故宮博物院, Gúolì Gùgōng Bówùyùan) in Taipeh. Ursprünglich gehörten diese zu der Verbotenen Stadt (紫禁城, Zǐjìnchéng / Purpurne Verbotene Stadt, kaiserl. Residenzstadt) in Beijing. Als der Aggressor und Kriegsverbrecher Japan China angriff (überall auch mit Zerstörungen und Plünderungen) hatten die Chinesen ihre Schätze versteckt. Später, nachdem Chiang Kai-shek, Vorstand der Kuomintang, gegen Mao Zedong im Jahr 1949 verloren hatte, zog er sich mit den Eliten und Streitkräften von China auf eine chinesische Insel, die Insel Taiwan, zurück. Die Schätze der Verbotenen Stadt hatte die Kuomintang mitgenommen. Außerdem interessierte ich mich auch für Motive aus der Natur, wie Vögel, Pflanzen und Blumen. Die waren für mich schön und gleichzeitig günstig.
Wir hatten das Briefmarkensammler-Geschäft in der Nähe unserer Schule gefunden, es war kleiner als wir uns vorgestellt hatten. Wo ich meine Briefmarken immer bekam war ein größerer Laden. Wir konnten erkennen, dass der Inhaber ein Vietnamese war, weil das Geschäftsschild nur in Vietnamesisch war. Im dem kleinen Schaufenster stand, außer dem was man sonst als Briefmarkensammler brauchte, eine kleine Tafel mit dem Text "Briefmarken mit Porträt von Hitler vorhanden".
Wir gingen in das Geschäft hinein. Der Inhaber schaute uns mit erstauntem und nicht besonders freundlichem Gesicht an, "Was wollen die hier?" dachte er vielleicht über uns. Hưng, unser "Führer": "Wir möchten uns Briefmarken anschauen." Der Inhaber gab keine Anwort. Es war ein Raum, der nur circa fünfundzwanzig Quadratmeter hatte. Alle Wandflächen wurden genutzt, um Vitrinen aufzustellen, circa zwei Meter hoch, zwanzig Zentimeter tief. In den Vitrinen standen Einsteck-Kartons voller Briefmarken. Vor der Wand gegenüber der Eingangstür stand eine Tischvitrine und darin waren auch Briefmarken in Einsteck-Kartons zu sehen. Hinter der Vitrine stand der Inhaber.
Das Geschäft war für uns neun Schüler ein wenig klein. Wir bewegten uns langsam von Vitrine zu Vitrine. Jeder von uns schaute konzentriert von oben nach unten, von links nach rechts, aber nicht einer von uns konnte feststellen, ob eine Briefmarke mit der Abbildung "des Mannes" dabei war. Die Schulkameraden drängten unseren "Führer" Hưng: "Frag ihn", "Ja, frag ihn" . . . . . . "Wie kann man kaufen, was man vorher nicht gesehen hat!" . . . . . . . Hưng zögerte ein wenig, dann ging er zu dem Inhaber: "Können wir die Briefmarken mit der Abbildung . . . . ." unser "Führer" Hưng hatte noch nicht zuende geredet, aber der Inhaber unterbrach ihn sofort mit einem "freundlichen" Ton: "Ihr wollt nur gucken, zum kaufen seid ihr nicht hier." Wir waren enttäuscht. Dann fügte er noch unhöflich hinzu: "Das könnt ihr sowieso nicht bezahlen!" . . . . . . In dem Moment fiel mir ein, dass ich sowieso noch Briefmarkenalben brauchte und dachte: "Hier ist es teurer, aber vielleicht . . . . . 'von nichts kommt nichts' hatte mein Vater schonmal gesagt. Außerdem hatte ich mich auf dem Weg hierhin sehr gefreut, mit den Mitschülern gemeinsam etwas neues zu entdecken." . . . . . . "Ich möche das Album haben!" und zeigte mit dem Finger auf die Vitrine hinter dem Inhaber. "Dieses hier?" fragte er mich und der Ton war freundlicher. "Nein, das größere, in dunkelblau!", "Das?", "Ja und zwei Packungen Briefmarkenhüllen in verschiedenen Größen." Nachdem ich bezahlt hatte, bekam ich die Sachen eingepackt und sie wurden mir gegeben. Hinter mir hörte ich den leisen Ton eines Schulkameraden: "Frag ihn nochmal!" Ich schaute zu Hưng, er hatte sofort verstanden: "Können sie uns doch die Briefmarken zeigen, nur kurz?" Der Inhaber überlegte kurz, dann: "Aber nicht anfassen, einverstanden?" "Natürlich!" Der Inhaber öffnete die einzige Tür in dem Geschäftsraum, ging in das kleine Hinterzimmer und kam mit einem Sammelalbum in der Hand zurück, dann schloss er die Tür wieder zu. Auf dem Vitrinentisch öffnete er das Album und zeigte uns die Briefmarken, die wir sehen wollten. Die Briefmarken befanden sich unter Schutzfolien, trotzdem sagte er zu uns : "Nicht anfassen!"
Wir standen dicht zusammen Kopf an Kopf, guckten konzentriert auf die Briefmarken. Es handelte sich um ein Gruppe von Briefmarken in kleinem Format, auf denen das Porträt eines Mannes abgebildet war, der Hitler sein sollte. Auf einer anderen, größeren Briefmarke war er in stehender Position mit einem Symbol auf seinem Oberarm zu sehen. Auf den ersten Blick dachte ich, das wäre ein Symbol des Buddhismus, ab und zu sieht man es auf der Brust einer Buddhastatue, aber spiegelverkehrt abgebildet. Es ist ursprünglich ein ur-, uraltes chinesisches Schriftzeichen, bedeutet zehntausend und ist ein Symbol für Unendlichkeit . . . . . Was hatte das für ihn für ein Bedeutung? Was meint er damit? Auf der Briefmarke standen u.a. die Buchstaben "Deutsches Reich" . . . . . . "Ist der Mann Hitler?" fragte einer von uns. Der Inhaber reagierte beleidigt: "Was meint ihr . . . . . . so, es ist genug!" Er klappte das Album zu, wir fühlten uns auch von dem Inhaber beleidigt und gingen raus aus dem Geschäft.
Insgesamt haben wir nur circa 5 Minuten die Briefmarken betrachtet, aber es hatte eine seltsame Wirkung auf uns, insbesondere durch sein für uns stressiges, strenges und unzufriedenes Gesicht. Wir waren still und fast wie gelähmt auf dem Weg nach Hause. Auch nachdem sich unsere Wege getrennt hatten.
In der Schule lernten wir nur Englisch oder Französisch als Fremdsprache. Deswegen, um es genau zu wissen, ging ich am nächsten Tag in das chinesische Viertel Cholon in einen chinesischen Fachbuchladen. In dem "德中辭典 / Deutsch - Chinesisch Wörterbuch" stand: "Deutsches Reich / 德意志帝国 / Deutsches Kaiserreich" und wenn man von Chinesisch ins Englische übersetzte dann hieß es German Empire. Die Briefmarken stammten also aus "Germany" und die Abbildung musste doch Hitler sein. Die Frage "Ist der Mann Hitler?" war schon gelöst.

Zwei Tage später gingen wir nach der Schule zu einem Chè-Stand (Chè= vietnamesische gekochte Süßigkeiten) in der Markthalle in der Nähe der Schule. Der Laden kannte uns, weil wir fast Stammkunden waren. Außerdem war die Tochter der Betreiberin hinter einem von uns her, Phú. Die Tochter war fast siebzehn, Phú war ein paar Monate älter als ich und hatte an ihr kein Interesse. Aber es hatte uns sehr amüsiert, als wir beobachteten, wie das Mädchen sich unserem Freund anzunähern versuchte . . . . . . .
Wir hatten unsere Bestellung nach unseren Wünschen bekommen, dann unterhielten wir uns leise über das, was an dem Tag im Briefmarkengeschäft passiert war. Es klingt kindlich, aber irgendwie wollten wir unser Erlebnis zuerst für uns behalten. Die Betreiberin und ihre Tochter schienen sehr neugierig auf unser Gespräch zu sein, inbesondere die Tochter, sie fragte: "Wer ist Hitler?" Auch die Mutter: "Ja, wer ist Hitler?" Die Fragen wurden von uns nicht beantwortet, weil wir sehr konzentriert auf unser Gespräch waren. Der Standbetreiber nebenan meldete sich auch zu Wort: "Ja, wer ist Hitler? Der muss ein Westler sein!" Wir waren genervt als die Betreiberin fragte: "Ist er ein guter Mensch, hilft er armen Leuten? Ich bin arm und muss hart arbeiten!" Die Tochter fügte hinzu: "Ich und meine Mutter müssen jeden Tag um fünf Uhr früh aufstehen, verschiedene Sorten von Chè kochen, dann zum Markt bringen . . . . . . . und wir sind nicht vor fünf Uhr Nachmittags wieder zu Hause!" Die Tochter hoffte, dass sie das Mitgefühl von Phú erweckte! Sie schaute fest zu Phú und wartete auf eine Anwort von ihm. Aber es passierte dann das Gegenteil von dem was sie gehofft hatte, Phú reagierte nicht und Hưng fühlte sich in unserem Gespräch von den Fragen gestört, mit rauem Ton sagte er: "Nein, der hilft niemanden!" Die Mutter versuchte sich und die Tochter zu verteidigen: "Warum nicht, wenn er ein guter Mann ist." Einer von uns meldete sich zu Wort: "Von einem guten Mann haben wir nichts gesagt." Ein anderer Schulkamerad fügte hinzu: "Er ist eher böse als gut." Der Mann vom Nebenstand: "Nein! Wirklich?" Die Tochter ließ sich nicht überzeugen: "Das glaube ich nicht." Hưng konnte es nicht mehr aushalten: "Dann kannst du ihn haben und lass uns in Ruhe!" Ein Schulkamerad, der neben Hưng saß: "Aber du musst ihn erst ausgraben." Mutter und Tochter waren blass. Wir standen auf und verließen den Stand und hörten noch vom Nebenstand: "Na sowas! So sind die Schüler von heute."

Wir ließen uns nach dem Tag nie mehr bei dem Chè-Stand blicken. Mit "Hitler" gerieten wir von einer unangenehmen Situation in eine andere. Wir hätten den Leuten erklären können, aber wir hatten in der Zeit selbst zu wenig und nichts genaues über Hitler und "Germany" gewusst. Ich hatte das Thema "Hitler" seit dem vergessen . . . . . . bis zum Jahr 1972, als viele Bücher mit dem Thema über ihn erschienen.

"Politische Ausbildung"

Seit 1972 hatte Vietnam China dauernd mit primitiven Worten provoziert und es gab gleichzeitig ständige Grenzverletzungen an der Grenze zu China. Anfang 1979 gab es dann militärische Konflikte zwischen beiden Ländern. In dieser Zeit wurden die Mitarbeiter der Firma, die ehemals Bürger der Republik Vietnam waren, gemäß einer Teilnehmerliste "aufgefordert" nach der Arbeit noch zwei bis drei Stunden an "politischer Ausbildung" teilzunehmen. In Wirklichkeit war es eine Gedankenkontrolle und gleichzeitige Umerziehung, so hatten wir das vorab schon vermutet.

Nach der Arbeit versammelten wir uns in einer kleinen Halle außerhalb der Firma. Dort waren auch Leute, die wir überhaupt nicht kannten. Wie wir herausfanden, war es eine Veranstaltung des Verkehrs- und Transportamtes für die gesamten Arbeitseinheiten des Bereiches Verkehr und Transport. Mitten in der Halle befanden sich zahlreiche verschiedene Arten von Stühlen, die dort hingestellt worden waren. Am Ende der Halle gab es ein Podest und an der Wand hing ein großes Portrait von Onkel Hồ (Hồ Chí Minh), links und rechts davon eine vietnamesische kommunistische Nationalflagge und eine rote Fahne mit gelbem Hammer und gelber Sichel. Es ist ernst, spürten wir. Rund um die Stühle gab es einen circa einen Meter breiten Gehweg bis zur Wand, dort standen schon die Genossen. Sie sollten uns "helfen", uns "begleiten", für den Fall, dass wir irgendetwas brauchen z.B. dringend zur Toilette gehen müssen. Ich saß glücklicherweise neben Nhựt, aber mitten unter uns unbekannten Personen, das machte uns unsicher. Denn wir wussten nicht, ob die oder der einer von den Genossen war, oder in derselben Situation wie wir, aber in einer anderen Einheit arbeitete.
Nach circa 30 Minuten, in denen nichts passierte, und wir Unsicherheit und Spannung verspürten, rief ein Genossen laut: "In stehender Position!" Er kündigte den Vortragshalter als führendes Mitglied der kommunistischen Partei Jugend der Stadt Hồ Chí Minh an, als dieser ankam und auf das Podest trat. Es fing an mit der internationalen kommunistischen Hymne, dann folgte die Nationalhymne des kommunistischen Vietnam. Dann ein Genosse: "Sitzen!" Die Teilnehmer nahmen ihren Platz wieder ein.
Es war totenstill in der kleinen Halle, man konnte sogar jedes leise Geräusch hören. Der Vortragshalter bewegte sich zur rechten Seite des Podestes, drehte seinen Kopf nach links und rechts, gleichzeitig starrte er den Teilnehmern der rechten Seite der Halle in ihre Gesichter. Dann bewegte er sich zur linken Seite des Podestes und starrte die Teilnehmer dieser Seite auch an. Als er zurück in der Mitte des Podestes war, stand er da ein paar Minuten ohne Worte . . . . . . . dann mit einem zornigen und lauten Ton, der wie ein scharfes Messer in die Luft geschleudert wurde und die stille Atmosphäre des Raumes durchschnitt: "China ist jetzt unser Feind." Durch diesen plötzlichen lauten und aggressiven Ton hatte nicht nur ich sondern alle Teilnehmer im Raum einen Schock bekommen. Nhựt stieß mich leicht an und ich wusste schon was er meint "Es wird spannend und wir sollten aufpassen und vorsichtig sein" . . . . . . Nach ca. zwei nachdenklichen Minuten ohne Worte hatte der Vortragshalter mit einem leisen Ton weitergesprochen: "Ja, China ist unser Feind . . . . seit 1972" . . . . . . . "Seit 1972 haben China und Amerika (USA) sich gegenseitig die Hände gereicht . . . . " Dann wurde er wieder zornig und laut: "Die Amerikaner, der Kopf einer giftigen Schlange, der Führer der Barbaren des Westens. Die Kolonieherrscher, die Menschen-Ausbeuter, die Menschenhändler, Sklaventreiber und Kulturvernichter. Ja! . .das sind sie . . . . . . . " Wieder ein paar Minuten ohne Worte . . . . . . dann: "Was hatten die Franzosen mit unserem Land gemacht? Sie hatten unser Land angegriffen und haben unsere Schätze, unsere Rohstoffe geplündert . . . . . . Unser Volk wurde unterdrückt, versklavt und musste täglich unter Zwang bis zu zwanzig Stunden schwer körperlich arbeiten. Es gab nur Reis in Tierfutterqualität, von dem man nicht mal satt werden konnte. Wasser gab es auch nicht genug, um den Durst zu löschen. . . . . . . In den Gummibaum-Plantagen wurden die Arbeiter sogar mit schweren Eisenketten am Fuß gefesselt, damit sie nicht flüchten konnten" . . . . . . . "In deren Palästen, Schlössern in Frankreich klebt noch das Blut unseres Volkes, man kann es riechen."
In der Halle hörte man nur noch die lauten Schritte des Genossen auf dem Podest, mit seiner zornigen Stimme sprach er weiter: "Nicht nur die Franzosen, sondern auch die Amerikaner haben wir nach Hause gejagt . . . . . . . Die Amerikaner, ja! Die Amerikaner und ihre Verbündeten, die Aggressoren . . . . . . was geht die an, dass wir unser Volk im Süden befreien? Was haben sie für ein Recht in unser Land einfach einzumarschieren und sich in die Angelegenheiten unseres Landes einzumischen? Ist das ein Unterschied zu Hitler, als er andere Länder angriff im zweiten Weltkrieg?" Der Ton des Vortragshalters wurde plötzlich lauter: "Nein, nein, das ist das gleiche. Was bilden die sich ein? Für Unabhängigkeit, Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zu kämpfen? Nein, nein, die Wahrheit ist, das sie sich mit diesen schönen Begriffen tarnen mit der bösen Absicht ihr Imperium weiter aufzubauen und zu verbreiten. Und dann die ganze Welt unter ihrer Macht zu kontrollieren. Ja, ein Welt-Polizei-Imperium. Das ist das Ziel der Amerikaner und ihrer Verbündeten!" Nach ein paar nachdenklichen Minuten sprach er wieder mit einem zornigen Ton: "Die sind nicht nur überheblich und überschätzen sich, sondern sind auch noch aggressiv . . . . . . Sie haben geglaubt, dass sie in kurzer Zeit uns, aus dem Norden vernichten könnten und mit deren Marionetten-Regierung im Süden als Sprungbrett schnell ganz Asien erobern könnten." . . . . Der Vortragshalter, führendes Mitglied der kommunistischen Parteijugend der Stadt Hồ Chí Minh, trank einen großen Schluck Wasser, dann verließ er das Podest. Es kehrte wieder Stille ein in die kleine Halle.

Alle Teilnehmer der "Politischen Ausbildung" in der kleinen Halle waren nur Verwaltungsarbeiter der ehemaligen Republik Südvietnam, sowie Unteroffiziere und Soldaten der normalen Armeeeinheiten dieser Republik, aber allen wurde vorgeworfen, schuldige Kriegsverbrecher zu sein, weil sie der "Marionettenregierung" gedient hatten. Obwohl sie nur die Pflicht hatten, ihr Land zu verteidigen. Ich machte mir schon Gedanken: Was würde mit uns nach der "Politischen Ausbildung" passieren?
Die stille Wartezeit wurde von einem unsicheren und furchtbaren Gefühl begleitet und kam mir sehr lang vor, obwohl es nur circa zwanzig Minuten waren, bis der Vortragshalter wieder in der kleinen Halle erschien. Als er wieder auf das Podest trat, setze er den Vortrag mit lautem Ton fort: "Ja, sie haben geglaubt, dass sie uns in ‚kurzer Zeit‘ besiegen werden. Sie haben ihre modernsten Waffen eingesetzt. Die B52 sollten 'Nordvietnam zurück in die Steinzeit bomben'. Die Barbaren scheuten vor nichts zurück, sie haben sogar Chemiewaffen eingesetzt, um unser Volk zu vernichten: Agent Orange. So wie beim Massaker in Mỹ Lai. So grausam und unmenschlich sind sie. . . . . . . . . ‚ die ‚kurze Zeit‘ wurde für die Amerikaner zu fast zwanzig Jahren. . . . . . . . In ‚Hanoi Hilton‘ musste sich sogar die Amerikanerin Jane Fonda für ihr Land schämen, als sie die Kriegsgefangenen, die Bomberpiloten der B52 sah. Für die Schauspielerin Jane Fonda eine Schande für die USA ." . . . . . . Für ein paar Minuten hatte der Vortragshalter die Rede unterbrochen, dann: "Im Jahr 1973, weil Amerika, die sogenannten USA, uns nicht besiegen konnte, redeten sie dann über Frieden, . . . . . . ein Abkommen für Frieden, warum plötzlich Frieden? In Wahrheit war das ein Trick, um ihre peinliche baldige Niederlage zu vermeiden, damit sich ihre Soldaten noch lebend aus unserem Land nach Hause zurückziehen konnten . . . . . . . Frieden! Das war nur eine Maske, um ihre grausamen, unmoralischen Taten zu verdecken. Im April 1975, als die noch in Vietnam verbliebene amerikanische Armee hörte, dass unsere Befreiungsarmee immer näher nach Saigon vorrückte, flüchteten sie um ihr Leben aus unserem Land, wie die Ratten. Dank der Führung von Onkel Hồ und der kommunistischen Partei Vietnams haben wir den Kolonialherrscher und Herrscher des Imperialismus aus unserem Land gejagt." . . . . . . . . Das führende Mitglied der kommunistischen Parteijugend der Stadt trank einen Schluck Wasser, dann verkündete er, dass der Vortrag für den ersten Tag zu Ende sei. Auf den Befehl eines Genossen standen alle Teilnehmer auf und der Vortragshalter verließ die kleine Halle.

Der Vortrag war ein Schlag ins Gesicht der Amerikaner und ihrer Verbündeten und zugleich Demütigung der Teilnehmer der "Politischen Ausbildung". Es war wie das Sprichwort: "Der Gewinner ist der König, der Verlierer ist der Räuber." Der König hat immer recht! Den Teilnehmern der "Politischen Ausbildung" blieb für sich nur die Frage: Und was war mit der Invasion im Jahr 1968 vom Norden in den Süden? Tausende Bürger der Republik Vietnam wurden massakriert, insbesondere in Huế, hatte man das schon vergessen? Warum beschimpfen sie China, obwohl sie auch Amerika (USA) die Hände gereicht haben. Millionen haben nicht vergessen, dass Tom Hayden mit seiner Frau Jane Fonda, die während des Vietnamkrieges beide in Hanoi waren, an der Seite des kommunistischen Regimes Vietnam standen, gegen die Republik Vietnam und als "Verräter an ihrem eigenen Land und deren Soldaten".

Nach dem Vortrag wurden nach und nach Teilnehmer von verschiedenen Einheiten der Firma des Verkehrs- und Transportamtes nach vorne gerufen. Es wurden Gruppen von je zwanzig Teilnehmern gebildet und diese wurden von je zwei Genossen "begleitet", um den Teilnehmern bei der "Diskussion" über den Vortrag zu "helfen" und auch beim "Lernen" zu "helfen", täglich nach dem Vortrag.
Wozu braucht man noch "Diskussionen", wenn "die Führung von Partei und Regierung immer recht hat und das Volk nur zu folgen braucht"? Das war eine Möglichkeit herauszufinden, wer von den Teilnehmern eine andere Meinung hatte. Jeder der Teilnehmer hatte sich zu der "Diskussion" vor der Gruppe selbst vorgestellt und übte Selbstkritik bis zur "Einsicht der eigenen Fehler". Sich selbst zu korrigieren und zu verbessern, indem er die politische Linie der Partei durch den Vortrag lernt. So kann jeder Teilnehmer der "Politischen Ausbildung" seine falschen Gedanken auf den "richtigen Weg" lenken. Das waren die Regeln und die Ordnung der sogenannten "Politischen Ausbildung". Jeder Teilnehmer wurde streng kontrolliert, ob er den "Geist des Lernens" hatte.
Bei den sogenannten täglichen "Diskussionen" wurden die Teilnehmer dauernd gefragt und wiederholten den Inhalt des Vortrages des Tages. Der Teilnehmer , der nicht zügig antworten konnte, dem wurde von den Genossen "geholfen" bis er "verstanden" hatte und natürlich . . . . . . . stand sein Name in der "Wissen-Hilfsbedürftige Liste". Es herrschte Spannung unter den Teilnehmern. Jeder musste sich bei dem täglichen Vortrag konzentrieren, damit sein Name nicht auf die schwarze Liste kam, wegen der "Möglichkeit" . . . . . . . . . . dass er vielleicht in ein Arbeitslager oder Ausbildungslager geschickt wurde.

Jeden Tag, sobald der Vortragshalter auf dem Podest stand, hörte man das Gleiche zu Beginn seiner Rede: "China hat die internationale, sozialistische, kommunistische Brüderschaft an die USA und den Westen verraten und ist jetzt Feind der Arbeiterklasse . . . . . . . ."
Dann, wie üblich, nimmt er einen Schluck Wasser zu sich, fängt mit dem Thema des Tages an, nach ein paar Minuten nachdenklicher Stille: ". . . . . . . . . . Die USA und ihre westlichen Bündnispartner, sie reden dauernd über Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und dazu noch über Humanität. In Wirklichkeit ist was sie tun immer das Gegenteil. Sie nutzen diese schönen Begriffe zur Tarnung und Dekoration für ihr System. Ja, so ist das. . . . . . . z.B. in USA können und dürfen nur diejenigen mit einem mächtigen Vermögen als Staatsoberhaupt kandidieren. Ohne großes Vermögen wäre er nur eine Marionette der Geldgeber, die ihn in das Amt des Regierungschefs gebracht haben, obwohl er das Staatsoberhaupt ist . . . . . . . . . Und wie ist es mit dem Volk in der Unterschicht? Nach dem Gesetz 'dürfen' sie natürlich zur Wahl gehen und auch arbeiten, um noch mehr Geld für den Reichtum der Oberschicht anzuhäufen. Die Unterschicht arbeitet hart und lebt trotzdem in Armut und Elend. Viele von ihnen sind obdachlos . . . . . . . . . Ja, das ist die sogenannte 'Demokratie', 'Freiheit' und 'Menschenrecht' in dem kapitalistischen System, welches die Kapitalisten betreiben."
Ein Gedanke kam Nhựt, Thu und mir durch den Vortrag des Tages: Wie kann es in einem "Vom Tellerwäscher zum Millionär"-Land Armut, Elend und Obdachlosigkeit geben? Später hatten wir noch Gelegenheit uns darüber zu unterhalten. Wir waren uns sicher, dass es in Südvietnam, bis zum 30. April 1975, der Zeit bevor der Aggressor, das kommunistische Vietnam, das Land regierte, zwar Armut aber nicht Elend und keine Obdachlosen gab. Es gab höchstens in der Stadt Straßensänger, die für Passanten sangen, um Geld zu bekommen. Nach dem 30. April 1975 war das Leben für das Volk dann ein Elend. Überall gab es Obdachlose zu sehen, sobald es dunkel war. Sie bettelten in Verzweiflung, um zu überleben. Denn fast alle der Bevölkerung arbeiteten täglich hart, aber konnten sich davon nicht einmal satt essen. Wovon könnten sie den Obdachlosen etwas spenden, auch wenn die Obdachlosen ihnen sehr leid taten. Außerdem waren fast nur am frühen Morgen und am späten Abend Menschen unterwegs, die Arbeiter. Das war die einzige Möglichkeit für die Obdachlosen Spenden zu bekommen.
Die Obdachlosen mussten sich am hellen Tag vor der Polizei irgendwo verstecken, sonst würden sie zurück in die "Vùng Kinh Tế Mới / Neue Wirtschaftsgebiete" gebracht, wo es für sie keine Lebensmöglichkeit gab. Oder sie kämen ins Gefängnis, weil ihnen die Flucht aus dem Land nicht gelungen war und ihre Häuser schon vom Regime beschlagnahmt waren.
Mir tat es am meisten leid, als ich erfuhr, dass auch Frauen aus gutem Haus, manche war noch jung und hatten noch keine Lebenserfahrung, ihren Körper verkaufen mussten, um mit ihren alten Eltern, ihren noch jungen Geschwistern oder ihren Kinder das Leben durchhalten zu können. Denn Lebensmittel vom Schwarzmarkt waren teuer, für sie sehr teuer. Die Nächte müssen für sie sehr lang und ein unbeschreibliches Elend gewesen sein . . . . . . und . . . . . wer waren die "Käufer"? Das wusste fast jeder: Die Machthaber, die nach dem 30. April 1975 das Leben genießen, sich ausleben wollten. Obwohl sie behaupteten, dass "die Prostitution eins der Übel, ein Problem der Gesellschaft ist, das wir vom letzten Regime geerbt haben und in unserem gesunden System streng verboten ist."
Nach dem 30. April 1975 hörte man, dass Menschen sich das eigene Leben nahmen, was man vor dem Zeitpunkt selten gehört hatte. Ja . . . . . . auch in so einer Situation hat das Leben noch einen Sinn! Für manche Menschen aber nicht mehr . . . . . . denn die Hoffnung hatte sie schon verlassen!

Nach dem anstrengenden und langen Arbeitstag wollten die Arbeiter schnell nach Hause gehen, so wie ich, und hofften von einer Mahlzeit satt zu werden und sich dann zu erholen, weil wir schon erschöpft und hungrig waren. Aber in der Zeit mussten wir nach der Arbeit noch an der "Politischen Ausbildung" teilnehmen.
Fast alle von uns waren müde, aber trotzdem strengten wir uns an, das durchzuhalten. Wir notierten uns, was der Vortragshalter uns erzählte, um für die "Diskussionen" vorbereitet zu sein und unsere "eigene Meinung" äußern zu können. Eine Meinung, die mit der Politik der vietnamesischen kommunistischen Partei eins sein sollte. Sonst . . . . . . . .
Wer einnickte, während der Vortragshalter, das führende Mitglied der kommunistischen Parteijugend der Stadt, die Rede hielt, wurde von den Genossen aus der Halle geführt. Er kam dann nass zurück mit Wasser in Haaren, Gesicht und über fast den ganzen Oberkörper. Ihnen wurde also entweder Wasser ins Gesicht geschüttet oder der Kopf unter Wasser gehalten.

Wieder ein Tag mit einem für uns Teilnehmer anstrengenden Thema. Der Vortragshalter:" . . . . . . . . . . . . . . Sie nannten die amerikanischen Ureinwohner 'Indianer', weil sie dachten sie haben ihr Ziel erreicht, Indien. Nein, Ihr Barbaren, das ist nicht Indien." Der Ton war plötzlich laut: "Das ist Amerika" . . . . . . Der Vortragshalter sprach weiter: "Sie sind rechthaberisch, die Barbaren, weil die Ureinwohner Amerikas bis heute immer noch 'Indianer' heißen." Nach ein paar Minuten Stille sprach er weiter, aber lauter: "Die Barbaren behaupten auch, dass die Ureinwohner Amerikas eine rote Hautfarbe haben. Nein, die Ureinwohner haben eine bräunliche Hautfarbe, wie wir . . . . . . . und unsere Hautfarbe ist nicht Gelb, wie sie auch behaupten. Manche Asiaten haben sogar eine helle Hautfarbe." Dann ging er bis zum Rand des Podestes und fragte die Teilnehmer: "Genossen, haben wir eine gelbe Hautfarbe?" "Nein" . . . . ."Nein" "Nein" Fast alle Teilnehmer in der Halle hatten ihm die Anwort "Nein" gegeben.
Der Vortragshalter: "Mit der Hautfarbe fangen die Barbaren die Diskriminierung von Menschen, die andere Kultur und Religion als sie haben, an. Mit der Hautfarbe wird der Wert des Menschen eingestuft. Die Barbaren behaupten, dass sie Menschen sind, die den höchsten Wert haben, weil ihre Hautfarbe weiß ist. Nein, egal welcher Hautfarbe ein Mensch ist, Mensch ist Mensch und alle Menschen haben den gleichen Wert. Diese Barbaren im Westen, die sind doch später auch Vorbild für Hitler und sein rassistisches Imperium." . . . . . . Nach einem Schluck Wasser sprach der Vortragshalter weiter: "Nach dem zweiten Weltkrieg zeigten sie mit ihren Fingern auf Hitler, aber das war nur ein Ablenkungsmanöver. Ablenkung von dem, was sie schon vor Hitler Jahrhunderte lang getan hatten."
Der Vortragshalter: "Schnell hatte der Aggressor, die Barbaren aus Europa den Kontinent Amerika gestürmt. Weil die 'Indianer' ihr Land nicht freiwillig abgeben wollten, behaupteten sie, dass die 'Indianer' ein böses Volk seien und die Aggressoren nahmen das Land von den Ureinwohnern weg mit dem Einsatz ihrer modernen Waffen. Die amerikanischen Ureinwohner, die 'Indianer' wurden nach und nach von den Aggressoren massakiert, vernichtet. Der übrig gebliebene kleine Rest von ihnen wurde in sogenannte 'Reservate' gesperrt. Für die 'Indianer' gab es keine Möglicheit in diesen sogenannten 'Reservaten' zu leben und ihre alten Traditionen und Riten zu bewahren. Es gab nicht genug Nahrungsmittel wie Büffel, essbare Pflanzen oder Heilkräuter, keine Trinkwasserquelle und natürlich auch keinen Fisch. Der Rest der Ureinwohner, die 'Indianer', wurden so planmäßig ausgerottet . . . . . . . Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, hatten die Aggressoren, die Barbaren aus Europa, das Land Amerika für sich konfisziert und sich dann 'Amerikaner' genannt. Später wurden daraus die USA – Vereinigte Staaten von Amerika."

Es folgten auch mehrere Tage mit dem Thema "australische Ureinwohner", den Aborigines. Anders als die Ureinwohner in Amerika, diese wurden "Indianer" genannt, wussten wir damals fast nichts über die Aborigines in Australien. Das Thema hatte dann die Neugier der Teilnehmer geweckt.
Der Vortragshalter: "Das Ziel von Kolumbus war im Auftrag der spanischen Monarchie, die Völker in Asien zu unterwerfen, zu kolonisieren, die legendären Reichtümer Asiens zu rauben. Als er 1492 behauptete, dass er in "Indien" angekommen sei , war er in Wirklicheit in Amerika. Es wurde dann grausam für die Ureinwohner Amerikas, sie wurden von den europäischen Eroberern ausgebeutet, unterdrückt und vernichtet. Diese Grausamkeiten passierten auch bei den australischen Ureinwohnern, den Aborigines . . . . . . . . Am 29. April 1770 betraten der Seefahrer James Cook, ein Engländer, sowie seine Besatzung, die gut bewaffneten Soldaten, das erste Mal Australien (früher Neu Holland genannt), nahmen den Kontinent und das Land formell für die britische Krone in Besitz. Invasion, Besetzung, Enteignung, Völkermord, kultureller Holocaust, Rassentrennung und erzwungene Anpassung, denn der Kontinent sollte weiß werden. Die Landung Cooks war die Stunde Null für die älteste Kultur der Welt, die Kultur der Aborigines." . . . . . . . . . .
In der Halle war es so still, man hörte nur noch den Schritt des Vortragshalters und dann die Geräusche von Wasser, das er eilig herunterschluckte. Der Vortragshalter schaute auf seine Uhr, das hatten wir bei ihm bisher noch nicht erlebt, dann setzte er die Rede fort: "Die Aborigines sind ein friedliches Volk, ernähren sich haupsächlich von Fischen und Pflanzen und manchen Insekten. Die Aborigines haben ein großes Wissen über die Natur. In der Pflanzenwelt finden sie ihre Heilmittel. Ihre Waffe zur Jagd ist nur eine angespitzte Holzstange und ein Bumerang. Gegen die zu der Zeit gut und modern bewaffneten Soldaten von James Cook waren die Aborigines deswegen wehrlos . . . . . . . . . Nachdem der Aggressor die friedlichen Ureinwohner in sogenannte 'Reservate' eingesperrt hatte, behandelte er sie wie Affen. Dann wurden die Kinder von ihren Eltern weggenommen, ein menschenverachtender Akt, willkürlich, brutal und gewaltsam sprichwörtlich aus den Armen ihrer Mütter gerissen. Ein rassistischer Verstoß gegen die Menschenrechte."
Nach einem Schluck Wasser setzte er den Vortrag fort: "Die 'Reservate' waren in Wirklichkeit ein Gebiet umgeben von hohem Stacheldrahtzaun und Wachtürmen, bewacht von bewaffneten Soldaten. Ein extrem trockenes Gebiet ohne Wasser und keine Pflanzen konnten wachsen. Die Aborigines hatten ihr Land und den Zugang zu Wasser an den Aggressor verloren. In den 'Reservaten' blieben sie aber weitgehend abhängig von den Nahrungsmittellieferungen der weißen Regierung. Der Aggressor, die Barbaren, hatten den Ureinwohnern zu Anfang versprochen, Wasser und Nahrungsmittel zu liefern soweit sie gehorsam wären, sonst sei auch das Leben ihrer Kinder in Gefahr. Das war eine Lüge und ein bösartiger Plan, weil nach nicht mal einem dutzend Lieferungen bekamen die Ureinwohner nur noch Alkohol und nichts anderes mehr. Die Aborigines sollten sich selbst süchtig nach Alkohol machen und davon vegiftet werden und der Aggressor, die barbarischen Engländer, sollte mit deren Tod nichts zu tun und kein Schuldgefühl haben." Nach einer Minute Pause sprach der Vortragshalter sofort weiter: "In der Verzweiflung, der hoffnungslosen Situation, dass sie ihre Kinder nie wieder sehen, aus Sorge, Angst um das Leben der Kinder, fingen die Ureinwohner von Australien, die Aborigines an, Alkohol zu trinken. So groß die Sehnsucht war, ihre Kinder wiederzusehen, so tief stürzten sie in den Alkoholkonsum. Bis fast alle von ihnen vom Alkohol vergiftet waren und qualvoll starben ohne Hilfe in den sogenannten 'Reservaten'." . . . . . . . der Vortragshalter weiter: "Nur einige der Ureinwohner konnten das Schicksal derjenigen in den 'Reservaten' vermeiden. Ihnen gelang vorher die frühzeitige Flucht und sie versteckten sich, als James Cook auf dem Kontinent landete. Weil sie schon befürchteten was die Fremden ihnen bösartiges antun könnten." Nach diesem Satz verließ der Vortragshalter in Eile die kleine Halle. Ein Genosse ordnete eine Pause an.
Ein so ungewöhnliches Verhalten des Vortragshalters, dem führenden Mitglied der kommunistischen Parteijugend der Stadt Hồ Chí Minh, hatten wir noch nicht gesehen. Er war so in Eile, ging es vielleicht um eine dringende wichtige Parteispitzenversammlung, die vorher nicht geplant war? Aber weshalb? Nhựt und ich waren unruhig. Thu saß weiter hinter uns, und die Teilnehmer in der kleinen Halle fühlten sich bestimmt auch wie wir beide, unruhig und besorgt. Wir waren unruhig und besorgt, weil wir ahnten, dass vielleicht irgendwas mit uns passieren könnte. Die Gedanken gingen mir durch den Kopf: Müssen wir statt hierhin weiter in ein Konzentrationslager für die "Politische Ausbildung"? Weil das Regime uns, trotz der "Diskussion", noch kein Vertrauen schenken konnte? . . . . . Das Regime vertraute uns sowieso nicht, glaubte ich. Ich weiß das auch, weil viele von uns, trotz der Situation sehr unvorsichtige Äußerungen gemacht hatten bei den so genannten "Diskussionen". Der Grund dafür war auch, dass alle bereits sehr müde waren und sich nicht mehr unter Kontrolle hatten. . . . . . . . Wir, die Teilnehmer in ein Konzentrationslager? . . . . . . . Und wer sollte die tägliche Arbeit erledigen? Nein, nein, das wird nicht passieren! . . . . . . . Oder vielleicht ist es doch möglich, weil wir nur ein Teil der Arbeiter von den Arbeitseinheiten sind und nach mehr als drei Jahren hatten sie von uns viel Fachwissen übernommen. Nach und nach würden die Mitarbeiter der Arbeitseinheiten wie wir - die zwar ehemalige Bürger der Republik Vietnam waren, die aber mit der Regierung vor 1975 ein eher unwichtiges Verhältnis hatten - ersetzt durch die Genossen. Viele von uns wurden in der Zeit schon in eine ganz unwichtige Arbeitsposition versetzt. Für sie sind wir wie die bereits ausgepressten Zitronen! Ein Schicksal ?!?!?! . . . . . . . . . Alle Teilnehmer und ich konnten sowieso nichts dagegen unternehmen, wie immer. In der Situation konnten wir nur versuchen unser inneres Gefühl möglichst nicht nach außen zu zeigen, das ist das Einzige, was wir tun konnten.
In der Pause. Man nennt es Pause, in Wirklichkeit bleibt jeder auf seinem Sitzplatz sitzen. Wer dringend zur Toilette musste, musste sich melden und wurde von einem Genossen begleitet, bis zur Toilettentür und zurück in die kleine Halle. Nichts ist schlimmer als nur zu sitzen, darauf zu warten, dass irgendwas passiert, das man vorher nicht weiß.
Plötzlich kam ein Genosse in die Halle, vermutlich von der kommunistischen Parteizentrale der Stadt. Der Ranghöchste der Genossen in der Halle ging schnell zu ihm. Die beiden unterhielten sich für ein paar Minuten, in der Zeit richteten alle anderen Genossen ihre Augen in unsere Richtung, dann ging der Genosse wieder. Ein paar Genossen gingen zu dem Ranghöchsten, sie führten ein kurzes Gespräch . . . . . . . . Es war schon spät und wir waren alle total müde. Plötzlich rief ein Genosse uns Teilnehmer auf, Gruppen zu bilden, wie seit dem ersten Abend, um das Thema des Tages zu "diskutieren". Trotz Müdigkeit und Erschöpfung waren ich und die anderen Teilnehmer in unserer Gruppe bei der Diskussion des Abends besonders wachsam. Vermutlich war das auch so bei den Teilnehmern in den anderen Gruppen.

Mit keinem guten Gefühl und erschöpft ging ich nach Hause. Meine Familie hatte sich große Sorgen um mich gemacht, weil es schon sehr spät war. Dann erfuhr ich von meinen Eltern, dass sich die Krankheit von Onkel Deng Kang (邓康) verschlechtert hatte. - Onkel Deng Kang war ein vertrauter Freund unserer Familie. Er war für viele Menschen bekannt als Vorstand der Reisträger-Gewerkschaft im Speditionsgewerbe bis zum 30. April 1975. - Als mein Vater an dem Tag von Onkel Deng Kangs Situation gehört hatte, wollte er ihn schon am nächsten Tag besuchen, aber ohne meine Mutter, weil die Lage draußen auf der Straße sehr unruhig und gefährlich war. Überall, besonders im Stadtzentrum, wurden Menschen als Juden und Judenfreunde beschimpft, angespuckt und angegriffen mit Steinen, Eisenstangen oder allem was die "Banditen" gerade fanden. Die Opfer waren am Anfang Vietnamesen mit chinesischer Abstammung (diskriminierend genannt "Chinesen"), später waren es auch Vietnamesen, die mit den "Chinesen" in Kontakt waren. Unter den Opfern, so hörte man, waren auch viele Vietnamesen, Bürger der ehemaligen Republik Vietnam . . . . . . . . . Normalerweise wäre meine Mutter auch mitgegangen. Aber meine Eltern waren sich einig, dass meine Mutter zu Hause bleiben und mein Vater alleine Onkel Deng Kang besuchen sollte. Dennoch war meine Mutter sehr besorgt um meinen Vater, weil in so einer gefährlichen Lage könnte auch meinem Vater etwas passieren. Noch am späten Abend planten wir, dass mein Vater früh morgens mit in der Strömung der Arbeiter zu Onkel Deng Kang gehen und bis Abends bei ihm bleiben sollte. Dann sollte er wieder mit in der Strömung der Arbeiter nach Hause kommen.
Früh am nächsten Morgen, bevor mein Vater und ich das Haus verließen, hatte meine Mutter meinem Vater eine Tüte Obst für den Besuch von Onkel Deng Kang gegeben, die sie noch am Vorabend auf dem Schwarzmarkt bekommen hatte. Meine Mutter besorgt: "Passt auf euch auf!" Mein Vater: "Mach dir keine Sorgen, wir sind vorsichtig und wachsam genug." Wie immer, jeden Morgen wenn ich das Haus verließ, zur Arbeit ging, war es noch dunkel, aber in den Häusern entlang der Straßen ging das Licht schon an. An dem frühen Morgen war es noch sternenklar, wodurch man ein wenig Sicherheitsgefühl hatte. Ich ging mit meinem Vater bis an die Kreuzung der Hauptstraße, dann ging ich in die Richtung zu meiner Arbeitsfirma. Mein Vater ging in Richtung Stadtzentrum. Mein Vater musste circa eine halbe Stunde laufen, dann traf er auf die Strömung der Arbeiter, die auch in Richtung der anderen Seite der Stadt liefen. Dann bis zum Haus von Onkel Deng Kang in der Stadtmitte brauchte mein Vater noch mehr als eine Stunde.

An diesem Tag, in der Firma, bei der Arbeit hatte ich mir fast die ganze Zeit Gedanken über meinen Vater und Sorgen um ihn gemacht. Nach Arbeitsende wollte ich sofort nach Hause gehen, aber es war nicht möglich. Ich musste mit den Kollegen, die in derselben Situation wie ich waren, an "politischer Ausbildung" teilnehmen.
Alle Teilnehmer der "politischen Ausbildung" saßen still in der kleinen Halle und warteten, warteten mit Wachsamkeit, weil sie nicht wussten, was auf sie zukommen könnte. Plötzlich hörten wir "In stehender Position!" Ein Genosse kündigte es wie immer laut an, als der Vortragshalter ankam und auf das Podest trat. Nhựt und ich stießen uns beide gegenseitig leise an, denn der Mann, der auf dem Podest stand, war nicht derselbe Vortragshalter wie sonst. Der Genosse kündigte dieses Mal den Vortragshalter als Mitglied der kommunistischen Parteizentrale der Stadt Hồ Chí Minh an. Vermutlich war der alte Vortragshalter in einen Machtkampf verwickelt worden und hatte seinen Posten als führendes Mitglied der kommunistischen Parteijugend der Stadt Hồ Chí Minh verloren, was man oft über die Partei und das Regime hörte.
Der Vortragshalter, Mitglied der kommunistischen Parteizentrale der Stadt Hồ Chí Minh, schaute mit konzentriertem Blick die gesamten Teilnehmer der "politischen Ausbildung" in der kleinen Halle an, dann stieg er vom Podest herunter und ging zu ihnen. Zwei Genossen folgten ihm, ein Genosse hatte einen Notizblock in der Hand. Der Vortragshalter fragte plötzlich einen Teilnehmer, der in der zweiten Reihe saß, mit seltsamem Grinsen und einem ausdrücklichen Ton: „Wie ist ihr Name?". Der Teilnehmer war in der Situation überrascht und während er seinen Namen sagte, sprach einer der beiden Genossen, die den Vortragshalter begleiteten, ungeduldig und laut: "Aufstehen!" . . . . . . Der Vortragshalter, der Mitglied der kommunistischen Parteizentrale der Stadt Hồ Chí Minh war, fragte den Teilnehmer weiter, in welcher Arbeitseinheit des Verkehrs- und Transportamtes er tätig war. . . . . . . Wie fühlte er sich bei der Arbeit? . . . . . . . Wo und womit hatte er sich vor dem 30. April 1975 beschäftigt?
Der Vortragshalter ging dann langsam durch den Gang rund um die Sitzplätze der Teilnehmer in der kleinen Halle. Während er mit langsamem Schritt ging, schaute er die Teilnehmer genau an, nach und nach suchte er sich Teilnehmer heraus, um Fragen an jeden von ihnen zu stellen. Nach den üblichen Fragen wollte er bei manchen Teilnehmern wissen, ob sie schon verheiratet waren, vor oder nach dem 30. April 1975, den Hintergrund der Ehepartner, Kinder und mit was sie sich zur Zeit beschäftigten. Manche Fragen waren sehr unangenehm und unmöglich, so dass man eigentlich nicht antworten mochte, weil das für manche Teilnehmer nicht nur eine zu private Angelegenheit war und sie wollten sich nicht mit einem fremden Mann darüber unterhalten, zum Beispiel: "Was machen sie und ihre Familie in der Freizeit?" "Haben sie Freunde?"
Ich saß fast in der Mitte der sechsten Reihe der Teilnehmersitzplätze. Der Vortragshalter ging gerade an der Reihe wo ich saß vorbei, plötzlich trat er zwei Schritte zurück und zeigte mit seiner Hand in meine Richtung. Ich stand auf. Er schaute mich circa zwei Minuten lang an, dann plötzlich schüttelte er den Kopf: "Nein" und seine Hand zeigte wieder in die Richtung zu mir, diesmal mit drei kurzen Bewegungen. Für den Teilnehmer, der drei Plätze weiter saß als ich, hatte er sich für das "Interview" entschieden. Das war eine unerklärliche Reaktion des Mitgliedes der kommunistischen Parteizentrale der Stadt Hồ Chí Minh. In dem Moment fühlte ich mich wie durch ein Wunder aus dem dunklen Schatten befreit.
Nach dem "Interview" stieg der Vortragshalter wieder auf das Podest. Anders als der vorherige, sprach der neue Vortragshalter leise, langsam und Wort für Wort deutlich: ". . . . . . . . .Die Barbaren, Aggressoren des Westens, sie behaupten immer, dass sie sich für Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Unabhängigkeit für die Welt einsetzen, das ist eine reine Lüge. Man sollte nicht glauben, was sie sagen, sondern auf ihre Taten richtig hinschauen. Wo sie hingehen, dort gibt es Krieg, Massaker und den Zwang auf die Ureinwohner sich zu unterwerfen, Kolonialisierung, Sklaverei und Ausbeutung" . . . . . . . . . . . . . . Der Vortragshalter redete weiter: "Wie es den Kindern der Ureinwohner von Kanada passierte, so war es auch das gleiche schlimme Schicksal für die Kinder der Aborigines in Australien. Die Kinder der Aborigines wurden in Kinder-Konzentrationslager eingesperrt, umerzogen zum christlichen Glauben, um dann den Weißen als Sklaven zu dienen. In den Konzentrationslagern wurden nicht nur die älteren sondern auch die kleinsten Kinder brutal geschlagen, verhungert lassen, auch Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Zehntausende Kinder hatten das nicht überlebt. Die Leichen der verstorbenen Kinder wurden in Erdlöcher geworfen und diese einfach zugeschüttet. Diese hatte man später bis in die heutigen Tage an zahlreichen Orten in der Umgebung der Lager entdeckt. . . . . . . . . . Man wird noch mehr solche unmenschlichen Taten entdecken. Für die Barbaren ist das 'Menschenrecht' . . . . . das ist 'human'. . . . . .das ist 'Religionsfreiheit'. . . . . . . . . . "
Der Vortragshalter nahm einen Schluck Wasser, dann: "Nicht nur die Kultur, der Lebensraum und die Heiligtümer der Aborigines wurden vernichtet. Die heiligen Orte, die nicht vernichtet werden konnten, deren Namen wurden geändert, wie zum Beispiel der heilige Berg 'Uluru' der Aborigines, der hieß dann 'Ayers Rock', nach dem Namen des südaustralischen Premierministers Henry Ayers. Ein sogenannter 'Entdecker' des Uluru, obwohl er, Henry Ayers, den Berg nicht einmal in seinem Leben gesehen hatte. Uluru war schon immer ein berühmter heiliger Berg der Aborigines, lange, lange Zeit bevor die Engländer ihn 'entdeckten'. Den heiligen Berg der Aborigines darf nur der Priester der Aborigines betreten. Um die Aborigines zu demütigen, zu erniedrigen, erlaubten die Engländer heute im Jahre 1979 immer noch jedem, auf den Berg zu klettern und ihn mit den Füßen zu betrampeln." . . . . . . . . . . . . . .Der Vortragshalter sprach weiter: "Auch die wenigen Überlebenden der Aborigines konnten ihrem grausamen Schicksal nicht entkommen. Als sie den Zugang zum Wasser an die weißen Siedler verloren hatten, wurden ihnen Reservate zugewiesen. Jahrzehntelang bis heute gab es in Australien staatlich geförderte und organisierte Entführungen. Mehr als zehntausende neu geborene Aborigines-Kinder, darunter auch Mischlingskinder, wurden ihren Eltern weggenommen, gewaltsam sprichwörtlich aus den Armen ihrer Mütter gerissen. Die Kinder wurden in staatlichen Missionen, Konzentrationslagern eingesperrt. Die Kinder wurden durch Unterricht, durch Verbote, durch Zwang zum Christentum umerzogen und dann zur Ehe gezwungen, um sie als billige Arbeitskräfte auszubeuten und sie gesellschaftsfähig für das weiße Australien zu machen. Bis heute (1979) wird diese rassistische menschenverachtende Praxis noch fortgeführt . . . . . . . . . . auch in Kanada".
Fast alle Teilnehmer der "Politischen Ausbildung" waren schockiert über das Schicksal der Aborigines in Australien. Was mit ihnen passierte, war grausam, es gibt keine Worte das zu beschreiben. In Asien weiß man fast nichts über die Aborigines in Australien. Man weiß nur, dass die Aborigines friedliche Ureinwohner sind. Zur Jagd nutzen sie nur primitive Werkzeuge aus Holz. Anders als die Ureinwohner in Amerika sind die Aborigines in Australien zu keinem Aufstand fähig. Sie haben in ihrem Leben noch kein Metall gesehen oder in der Hand gehalten.

Ich war erschöpft und hungrig auf dem Weg nach Hause. Es war für mich ein sehr langer Tag, besonders bei der "Diskussion" war die Zeit für mich irgendwie stehengeblieben. Ich zwang mich mit schnellem Schritt zu gehen und hoffte, das meinem Vater nicht irgendetwas zugestoßen und er schon zu Hause war. Es war sehr spät. Durch die Lücken des wolkigen Himmels schien das Mondlicht. Nach einer Weile, trotz der Abenddämmerung sah ich die strahlend rote Farbe in kurzer Entfernung, und ich erkannte sofort, dass das die blühenden Blüten des Papierblumenbaumes auf der Terrasse unseres Hauses waren. Ein glückliches Gefühl verbreitete sich sofort ganz in mir: "Endlich bin ich zuhause". Jahre später, immer wenn ich irgendwo die roten blühenden Papierblumen (纸花 (zhi hua)/ Hoa Giấy / Papierblume/ Bougainvillea spectabilis) sehe oder mich an mein Elternhaus erinnere, spüre ich dann das glückliche und traurige Gefühl zugleich.
Meine Schwester stand hinter dem Papierblumenbaum und wartete schon auf mich, als ich ankam öffnete sie sofort die Terrassentür und sagte: "Vater ist schon zuhause, es ist nichts passiert". Ich war total erleichtert.
Es war schon sehr spät am Abend, meine Eltern und meine Schwester hatten bereits das Abendmahl zu sich genommen. Während ich aß, erzählte mein Vater, dass, als er bei Onkel 邓康 (Deng Kang) ankam, es für den Onkel und seine Familie eine große Freude gewesen war. Tante Deng hatte erzählt, dass die Familie den Besuch von meinem Vater schon seit Tagen gespürt hatte. Die Tochter hatte sofort zwei vertraute Freunde von Onkel 邓康 (Deng Kang) und meinem Vater informiert, die in der Nähe wohnten. Die zwei alten Freunde und mein Vater hatten sich schon eine lange Zeit nicht gesehen, so dass es bei dem Treffen trotz der Sorgen auch viel Freude gab. Mein Vater erzählte, dass sich die Gesundheit von Onkel 邓康 (Deng Kang) dramatisch verschlechtert hatte, so dass die Flucht aus dem Land für die noch gebliebenen Familienmitglieder nicht wie geplant umgesetzt werden konnte. Onkel 邓康 (Deng Kang) möchte, dass der älteste Sohn 邓华 (Deng Hua), die Schwiegertochter und die zwei Enkelkinder schnell Vietnam verlassen, wenn es eine Möglichkeit gibt, noch bevor das Regime die Familie aus irgendeinem Grund verhaften könnte.
Onkel Deng Kang war vor dem 30.4.1975 Vorstand der Reisträger-Gewerkschaft, das neue Regime hatte in den letzten Jahren erklärt, dass die Gewerkschaft unter der Republik Vietnam nur Marionetten der Regierung und den USA waren, um die Arbeiter zu unterdrücken, statt für sie für Gerechtigkeit zu kämpfen. In der Zeit des Konfliktes zwischen China und Vietnam an der gemeinsamen Grenze sind viele Chinesen grundlos verhaftet worden und verschwunden. Außerdem hatte die Familie von Onkel Deng Kang nach dem 30.4.1975 keine Arbeit bekommen. Natürlich stellte sich das Regime die Frage: Wovon leben die?
邓华 (Deng Hua) hatte geäußert, dass er auf keinen Fall seine Eltern und die jüngste Schwester in so einer Situation zurücklassen würde, auch wenn sein Vater nicht krank wäre. Wenn es die Gesundheit seines Vaters nicht erlaubte mitzukommen, dann bliebe er bei ihm, um für ihn zu sorgen. Es gab eine Diskussion zwischen Vater und Sohn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Vater: "Ich kann Deng Hua sehr gut verstehen. Aber die Lage hier ist sehr ernst und wenn nur ein Mitglied der Familie entkommen kann, dann gibt es für die Familie wenigstens noch eine Hoffnung weiterzuleben." Mein Vater sprach weiter, nach ein paar Minuten nachdenklich: "Die zwei Freunde und ich spüren, dass die Krankheit von Deng Kang nicht besser werden wird, sondern sie wird sich immer mehr verschlechtern. Die Frage ist, wie lang es noch dauern wird, es könnte sehr lange dauern bis . . . . . . . . ." Mein Vater war plötzlich wortlos! Dann: "Dieses Gefühl haben wir die Familie nicht merken lassen." Meine Mutter fragte, ob Onkel Deng Kang die Nachricht von den anderen Kindern schon erhalten hatte, den zwei Söhnen und der Tochter. Mein Vater zeigte ein trauriges Gesicht und schüttelte den Kopf: "Nein, leider immer noch nichts . . . . . . . " Meine Mutter: "Es ist schon mehr als ein Jahr, seit sie geflüchtet sind!" Mein Vater: "Darüber haben wir bei dem Besuch auch gesprochen. . . . . Von der Regierung festgenommen wurden sie auf keinen Fall, dann hätte die Familie einen 'Besuch' bekommen. Wahrscheinlich ist, dass die Kinder schon auf einer der Flüchtlings-Inseln sind und immer noch auf die Aufnahme durch ein Drittland warten. Die Kinder hatten noch kein Möglichkeit, eine Nachricht nach Hause zu schicken oder die Nachricht ging verloren, oder es gibt andere Gründe . . . . . . " Wegen der Gesundheitslage von Onkel Deng Kang hatten mein Vater und die zwei Onkel, die zu Besuch bei der Familie waren, die Nennung der anderen Gründe, was den geflüchtete Kinder passiert sein könnte, vermieden, wie: Das Boot ist im offenen Meer gekentert und die Insassen sind alle ertrunken oder sie wurden von thailändischen Piraten überfallen . . . . . . . . . . . Von den Freunden erfuhr mein Vater, dass einige Menschen, die wir auch kannten, wie zum Beispiel Onkel Phạm Văn Thắng mit seiner Frau und dem Sohn durch Unterstützung seines Schwagers und dessen Familie bereits aus dem Land geflüchtet waren. Die zwei Töchter von Onkel Thắng, die bereits außer Haus verheiratet waren, waren nicht dabei. Sie hatten auch noch keine Nachricht von ihrem Vater erhalten.
Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass es in der Zeit nach dem Jahr 1975 schon schlimme Nachrichten über die Flüchtlinge aus der ehemaligen Republik Südvietnam gab. Die barbarischen Thailänder organisierten sich mit Booten und Schiffen auf dem offenen Meer. Sie warteten, suchten nach Flüchtlingsbooten, die sie dann überfielen und ausraubten. Die Überlebenden, die Zeitzeugen erzählten, dass nachdem sie alle Wertsache wie Goldbarren, Schmuck, US Dollar von den Flüchtlingen geraubt hatten, wurden Jungen und Männer erschossen und die Leichen ins Meer geworfen. Mädchen, auch sehr junge, und Frauen wurde dann vergewaltigt, dann mitgeschleppt -wahrscheinlich für Prostitution - nur die alten Frauen blieben zurück im Boot. Das Boot trieb dann ohne Steuer im offenen Meer hin und her und die alte Frauen konnten nur auf den Tod warten. Außer sie wurden zufällig von einem anderen Flüchtlingsboot, das vorbeifuhr aus dem "Totenboot" gerettet. Oft war es aber zu spät, man entdeckte in den "Totenbooten" nur Blut und verwesende Leichen . . . . . . . . . .Buddhismus ist thailändische Staatsreligion, aber was mit den Flüchtlingen passierte, ist total anders als die Lehre von Buddha!
Durch meinen Vater erfuhren wir auch, dass noch am dunklen Morgen, dort wo die Strömung der Arbeiter in der Stadt vorbei ging, viele, viele Bettler von den dunklen Stellen der Straßenseite zu den Arbeitern rannten und bettelten. Viele Arbeiter hatten bereits eine kleine Packung in der Hand, um sie den Bettlern zu geben, vermutlich war das irgendwas zu essen. Nach ein paar Minuten, ob die Bettler etwas bekommen hatten oder nicht, veschwanden sie schnell wieder im Dunkeln. Das waren höchstwahrscheinlich die Menschen, die aus den "Vùng Kinh Tế Mới/Neue Wirtschaftsgebiete" geflüchtet waren. Die mussten sich vor den "Công An/Öffentliche friedliche Ordnung/Polizei" verstecken und erschienen nur in der Dunkelheit, sonst würden sie zurück gebracht "wo sie hingehörten" oder eingesperrt.
Die Firma in der ich arbeitete und die Lagerhäuser lagen am Stadtrand, am Fluss. Auf dem Weg zur Arbeit musste ich nur eine kurze Strecke mit einer kleinen Arbeiter-Strömung zusammen gehen. In der Richtung zu meiner Firma begegnete ich selten Bettlern, höchstens ein Paar Gruppen von Arbeitern. In der Gegenrichtung zu der anderen Seite der Stadt war die Strömung der Arbeiter deutlich dichter. Sie trafen sich dann mit anderen Arbeitern aus allen Richtungen, bildeten eine große und dichte Menschenströmung, gingen durch die Stadt zu der anderen Seite, wo alle Fabriken waren. Die große, dichte Arbeiter-Strömung in der Stadt mit vielen Menschen bot den Bettlern bessere Möglichkeiten zum betteln und sie konnten nicht einfach und schnell von der Polizei entdeckt werden. . . . . . . . Meine Mutter: "Wir hätten auch mindestens ein paar Kleinigkeiten einpacken und ihnen geben sollen."
Viele im Volk meinten, dass es nicht mehr lange dauern würde, wenn das Land nicht China als Vorbild zum Reformieren nimmt, dann . . . . . . . man kann es sich schon vorstellen: Hungersnot, Aufstand, dann Bürgerkrieg.

Wieder nach einem anstrengenden Arbeitstag müssen wir zur "Politischen Ausbildung". Wie lange noch?
In der kleinen Halle warteten wir "brav" auf den Vortragshalter der eigentlich schon lange erschienen sein sollte. Die Aufsichts-Genossen, die rund um die Teilnehmer standen, flüsterten sich gegenseitig in die Ohren und schauten gleichzeitig mit einem scharfen und drohenden Blick in Richtung der Teilnehmer. Ich fragte mich wieder, was wohl mit uns passieren würde. In der Situation machte ich mir plötzlich Gedanken über das Schicksal meiner Familie: Im Jahr 1978 mussten meine Eltern einen schweren und schmerzhaften Abschied von meinen vier Brüdern nehmen, die sie in ihrem Leben nicht mehr wiedersehen konnten. Eine Erfahrung, die sie als Kind schonmal machen mussten: In der Zeit der japanischen Aggression, als Verbündete von Hitlerdeutschland in Südost-Asien, wurde besonders China angegriffen und überall der so genannte "Asian Holocaust" vollstreckt. Mehrere Millionen Menschen in Asien wurden massakriert, lebendig begraben, noch am Leben die Haut vom Körper gezogen und . . . und . . . Noch als Kinder wurden meine Eltern und andere Kinder, organisiert durch die Bewohner der Küstenumgebung mit Fischerbooten aus China in Sicherheit gebracht. Seit der Flucht hatten meine Eltern ihre Eltern im ganzen Leben nie mehr wieder gesehen.
Die vier Brüder, die aus Vietnam geflüchtet waren, zwei sind älter als ich, mussten sofort aus dem Land flüchten, wegen der bedrohlichen Situation unter dem Regime. Von den zwei anderen Brüdern ist einer Schiffsmechaniker, der andere ist der jüngste der Geschwister und ging damals noch in die Schule.
In Vietnam blieben noch sechs Kinder meiner Eltern zurück, von denen war ich dann der Älteste. Nach mir waren zwei Schwestern, dann zwei Brüder und die jüngste Schwester, die noch Schülerin war. Die älteste Schwester wurde nach 1975 vom Regime als Arbeiterin in einem "Cửa Hàng Hợp Tác Xã Lao Động/Laden der Arbeitsgenossenschaft" eingesetzt. Sie bekam denselben Hungerlohn wie ich, von dem man sich nicht selbst ernähren konnte. Sie ging sehr früh aus dem Haus und kam sehr spät zurück, oft musste sie wie ihre einzige Kollegin im Laden übernachten, als Nachtaufsicht, weil der Laden in einem großen Haus mit mehreren Etagen war, das vom Regime beschlagnahmt worden war und gleichzeitig als Lagerhaus diente. Außerdem mussten meine Schwester und ihre Kollegin dauernd zur "Berufsausbildung", zu Versammlungen, etc. Trotzdem wir gemeinsam im Elternhaus wohnten, hatte ich sie selten gesehen. Von Erzählungen meiner Schwester wissen wir, dass in dem Laden noch zwei vorgesetzte Genossen waren, die außer ihrer Kontrolltätigkeit nichts zu tun hatten.
Nachdem die vietnamesische kommunistische "Befreiungsarmee" am 30.04.1975 in Saigon einmarschiert war, rief das neue Regime unter anderem auch alle Studenten, Schüler der ehemaligen Republik Vietnam auf, sich bei ihrer Uni, Hochschule zu melden. Ein paar Tage nachdem meine jüngere Schwester sich bei der Universität gemeldet hatte, kam sie kurz mit ihren drei engsten Studienkameradinnen nach Hause, um sich schnell umzuziehen, packte ein paar Notwendigkeiten ein, aß schnell zusammen mit ihren Freundinnen und verabschiedete sich dann in Eile von der Familie, um wieder zur Uni zurückzugehen. Wie seine Schwester, kam der jüngere Bruder eine Woche nachdem er sich bei der Hochschule gemeldet hatte auch nach Hause, um sich von der Familie zu verabschieden. Er packte alle notwendigen Sachen ein und ging wieder zu dem Treffpunkt, der Hochschule. Über die öffentlichen Nachrichten des Regimes wurden Studenten und Schüler als "Tiểu tư sản/Kleinkapitalisten" eingestuft. Darunter waren natürlich auch die jüngere Schwester und der jüngere Bruder von mir. Die Studenten und Schüler wurden dann zur Arbeit geführt, irgendwohin, so dass kein Mensch erfuhr, wo das sein könnte. Meine Eltern hatten sich große Sorgen um meine beiden Geschwister gemacht. Wir warteten täglich auf Nachrichten von den Geschwistern, aber vergeblich . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Zeit der Sorgen hat oft kein Ende, die Wartezeit ist immer unendlich . . . . . . . . . . . . . Nach drei langen Jahren, spät im Jahr 1978 kam mein jüngerer Bruder plötzlich nach Hause . . . . . mit einer . . . . . Fremden. Er hatte sie dann meinen Eltern vorgestellt, sagte, dass diese seine Freundin sei und beide sich in der Arbeitsgruppe kennengelernt hätten. Nachdem uns zwei Brüder der Freundin besucht hatten, erfuhren wir, dass sie auch aus einer Mehr-Geschwister-Familie kam, aus einfachen Verhältnissen, ehrlich und "regimetreu". Nach der Anmeldung bei der Stadtteil-Polizei wurde die Fremde natürlich zuerst unter Beobachtung gestellt.
Trotz aller Umstände, nach einem Antrag erlaubte es die Behörde meinem Bruder seine Freundin zu heiraten. Zu der Hochzeitsfeier eingeladen waren nur die Nachbarn und natürlich der Công An/Polizist, der vor Ort für hundert Familien Verantwortung trug, sonst keine anderen. Die Feier war nicht so wie sonst ein Hochzeitsbankett, sondern in einer "revolutionären" Form, nur mit Keksen und Tee. Für diese benötigten wir schon fast zwei Monaten vorher beim "Laden der Arbeitsgenossenschaft" eine Vorbestellung. Die "Feier" war hauptsächlich unter den Nachbarn eine Möglichkeit sich ein wenig in privater Atmosphäre unterhalten zu können, dachten wir. Die "Hochzeitsfeier" wurde beantragt für Sonntag von 19 Uhr 30 bis 22 Uhr und erlaubt. Das war der Zeitraum, in dem die Leute schon zu Abend gegessen hatten und nicht zu spät ins Bett gingen.
Kurz vor halb Acht kam der Công An/Polizist vor Ort zu der "Feier" und wurde freundlich von meiner Mutter empfangen, ein Muss. Meine Eltern hatten ihm meinen Bruder und die Braut vorgestellt. Eigentlich wusste schon jeder Orts-Polizist genau von der Lage jeder Familie in seinem Verantwortungsbereich. Nach einem kurzen üblichen Gespräch sprach er dann mit meiner Mutter über die voraussichtlichen Versammlungen der Bewohner in den nächsten vier Wochen – Meine Mutter war von den Bewohnern als Gruppenvorstand von zehn Familien gewählt- In dem Moment kam die Nachbarin, Tante Tư, sie wohnte zwei Häuser weiter rechts von unserem Haus. Als sie den Ortspolizisten sah, wollte sie umdrehen und gehen, aber es war schon zu spät. Sie grüßte "ordentlich" den "Herrn", gratulierte meiner Mutter und setzte sich zwei Tische weiter. Ich brachte ihr auch heißen Tee und Kekse, wie vorher dem Ortspolizisten, und setzte mich zu ihr, damit sie nicht allein war. Tante Tư, für den, der sie kennt, war sie freundlich, ordentlich und eine Frau mit gutem Benehmen. Sie erzählte ununterbrochen, dass es ihr gut ging, auch den zwei außer Haus verheirateten Töchtern, den Schwiegersöhnen, den Enkelkindern, allen ging es gut, alle waren zufrieden und glücklich und . . und . . . und, alles nur positiv. Das war für mich eine Überraschung. Das war anders als sie normalerweise meiner Mutter erzählt hatte. Tante Tư blieb nur zwanzig Minuten, dann verließ sie die "Feier", nachdem sie sich von mir und meiner Mutter verabschiedet hatte. Dem "Herrn" erzählte sie, dass sie am Tag das ganze Haus geputzt hatte und schon müde war, eine "Gute Nacht" zu wünschen für den "Herrn" hatte sie auch nicht vergessen. Hinter der Terrassentür ging sie plötzlich mit ungewöhnlich schnellen Schritten. Zufällig sah ich, dass Tante Năm und der Onkel, die rechts und links neben uns wohnten, heimlich zu uns herüberschauten. Als sie den Orts-Polizisten sahen, zogen sie sich schnell in die Dunkelheit zurück. Der Orts-Polizist ging nicht wie wir gehofft hatten, er blieb bis genau 22 Uhr, dann verabschiedete er sich von uns und ging dann schnell.
Tage später, nach und nach hatten die Nachbarn meinen Eltern oder meiner Mutter nachträglich gratuliert. Die Nachbarn erzählten, dass sie an dem Abend zu der "Feier" gegangen waren und als sie schon von der Straße oder der Terrasse eintreten wollten, den Orts-Polizisten gesehen hatten, was für sie sehr unangenehm war. Sie fühlten sich unwohl und nicht frei und sind wieder gegangen. Einige Nachbarn fühlten sich sogar ungeheuerlich gestört! Inbesonders als sie sahen, das keine anderen Gäste außer dem Orts-Polizisten anwesend waren. Trotzdem kamen die Nachbarn nocheinmal vorbei, mußten aber wieder gehen, weil der "Herr" immer noch da war. Tante Năm erzählte, dass sie sah wie Tante Tư unsere Terasse verließ: "Sie 'flog' schnell zurück zu ihrem Haus und als sie mich gesehen hatte, winkte sie nur kurz, dann machte sie schnell die Tür zu." Meine Mutter erklärte den Nachbarn, dass bei Feiern, Trauerfeiern oder irgendeiner Versammlung die Polizei um Erlaubnis gefragt und eingeladen werden muss. Alle dachten, das wäre eine Gelegenheit für die Nachbarn, einen gemütlichen Abend zusammen verbringen zu können, trotzdem der Orts-Polizist eingeladen werden musste, wenn er früher ging oder später kam. Nein, er kam und blieb die ganze Zeit da. Seinetwegen hatte Tante Tư es nicht lange aushalten können.
Im Jahr 1975 hatte meine jüngere Schwester sich wie mein jüngerer Bruder von der Familie verabschiedet und war wieder zur Uni zurückgegangen. Seitdem hatten wir sie immer noch nicht wiedergesehen und auch keine Informationen von ihr erhalten, anders bei meinem jüngeren Bruder, der nach drei Jahren wieder nach Hause zurückkam. Das war das letzte Mal, dass wir meine jüngere Schwester gesehen hatten. Auch vier Jahre später, 1979, als ich eine Flucht unternahm und das Land verließ, hatten ich und die Familie sie nicht noch einmal wiedergesehen . . . . . . . . . . . . . Meine Eltern waren sehr traurig und alle machten sich Sorgen um meine jüngere Schwester.
Der andere Bruder, der Ältere, hatte vor dem 30.04.1975 auch als Schiffsmechaniker gearbeitet und dann mussten er und ich, wie zwei ältere Brüder von uns, uns beim Wehrdienst melden. Im Krieg hatte er ein Bein verloren. Nach dem 30.04.1975 haben er, zwei ältere Brüder von uns und ich, so wie alle, die im Armeedienst der ehemaligen Republik Vietnam waren, eine Umerziehungsmaßnahme des Regimes durchmachen müssen. Er wohnte schon seit er als Schiffsmechaniker arbeitete mit seiner Freundin auf der anderen Seite des Flusses vor unserem Elternhaus. Tagsüber war mein Bruder aber oft bei meinen Eltern.
Mein Gedanke ging zurück zu der Situation in der Halle, in der ich mich gerade befand . . . . . . . . . . Mehr als eine Stunde war vergangen und der Vortragshalter war immer noch nicht erschienen. Die Aufsichts-Genossen waren unruhig, aber sie ließen sich uns gegenüber nichts anmerken . . . . . . . und . . . . . . . natürlich konnten sie uns wie immer nicht täuschen. Ein lauter Schrei zerriss die Stille der kleinen Halle: "In stehender Position!" Die Teilnehmer schauten nach vorn . . . . . . . . . . . . aber wo war der Vortragshalter? Der war nicht auf das Podest gestiegen. . . . . . . . . . . . . Ah ja, er spricht mit einigen Aufsichts-Genossen am Eingang der Halle. Kurz danach ging er nach vorne, holte drei Papierbögen aus seiner Aktentasche heraus, gab diese an einen der Aufsichts-Genossen. Beide wechselten ein paar Worte, dann ging der Aufsichts-Genosse zu dem Teilnehmer am Anfang der ersten Reihe, gab dem Teilnehmer die drei Papierbögen und sagte: "Nach dem Anschauen an die nächste Person weitergeben!" Der Aufsichts-Genosse machte dann ein Zeichen, dass die Teilnehmer sich wieder setzen durften. Das machte normalerweise der Vortragshalter wenn er auf dem Podest stand.
Auf den drei Papierbögen waren drei Abbildungen, die mit dem Vortragsthema des Tages in Verbindung standen. Auf der ersten Abbildung sah man, dass Frauen und Männer mit dunkler Hautfarbe jeweils an einem ihrer Fußknöchel mit einer verschlossenen Schelle ein Ende einer kurzen Eisenkette trugen. Das andere Ende der kurzen Eisenkette wurde an eine dicke, große und lange Eisenkette angeschlossen. Auf der Abbildung waren mehr als vierzig Afrikaner an der langen Eisenkette zu sehen. Die Hände dieser Menschen aus Afrika waren hinter dem Rücken gefesselt und mit dem Hals fest verbunden. Sie gingen in einer freien, ursprünglichen Landschaft in Begleitung von weißen Männern. Jeder von ihnen hielt eine Peitsche in der Hand. Im Hintergrund waren dutzende berittene weiße Männer auf Pferden auf der Jagd mit Gewehr und Lasso nach ein paar schwarzen Menschen.
Auf der zweiten Abbildung konnte man gut sehen, wie Menschen mit schwarzer Haut auf dem Boden des Schiffes transportiert wurden. Sie saßen auf dem Boden ganz eng zusammen, Reihe für Reihe, so dass vom Boden des Schiffes keine einzige Lücke zu sehen war. Ihre Knie und Beine waren eng an ihre Körper gezogen. Je Reihe von circa zwanzig von ihnen wurde eine lange Metallstange unter den Knien durchgezogen, ihre Hände wurden unter der Metallstange dann vor den Beinen festgebunden und waren in Verbindung mit den anderen Schwarzen durch eine lange Eisenkette. Der große Raum am Schiffsboden war nur für den Gütertransport gedacht, es kam kein Licht und keine Luft mehr nach unten, wenn der Eingang zugedeckt wurde.
Auf der dritten Abbildung war auch eine grausame, brutale und unmenschliche Szene zu sehen. Die Sklaven liegen auf dem Bauch auf dem Boden, die Hände und Fuße waren gefesselt, ihre Körper wurden ausgestreckt und sie wurden von weißen Männern blutig gepeitscht. Die anderen Sklaven, mit festgebundenen Händen hinter dem Rücken, hoch an einem Baumstamm hängend oder mit gefesselten Füßen, kopfüber aufgehängt wurden ebenso blutig gepeitscht. Der Rest der Sklaven muß dem grausamen Akt zuschauen.
Der Vortragshalter ging auf das Podest nachdem alle Teilnehmer der "Politischen Ausbildung" im Saal die drei Papierbögen angeschaut hatten und fing an zu sprechen: "Warum leben so viele Menschen mit dunkler Hautfarbe in den USA, Kanada, Australien und Europa? Woher kamen sie und warum? . . . . . . . . . . Kamen sie freiwillig in diese Länder? Nein, die Menschen mit dunkler Hautfarbe, die Afrikaner, kamen nicht freiwillig, sondern sie wurden wie Tiere gefangen, wie Tiere in diese Länder transportiert, um dann als Sklaven für die Weißen verkauft zu werden. Die Sklaven wurden gründlich ausgebeutet, die Ausübung ihrer eigenen Religion und Kultur war grundsätzlich verboten. Für die Sklaven war die tägliche 'Mahlzeit' die Peitsche des weißen 'Herrn', natürlich bis das Blut floss."
Der Vortragshalter, das Mitglied der kommunistischen Parteizentrale der Stadt Hồ Chí Minh sprach weiter: "Man kann es noch nicht vergessen, was in den beiden Kontinenten Australien und Amerika passierte, als die Europäer diese eroberten: Die Ureinwohner wurden massakiert, in den Tod getrieben. Ihre Kultur sowie ihre heiligen Religionsstätten wurden gründlich zerstört und vernichtet. Das wird immer im Gedächtnis der Menschen bleiben, solange die Menschheit noch existiert. . . . . . . . . . . . Auch die Kolonialverbrecher aus der westlichen Welt und Japan haben die Urbewohner brutal und gewaltsam massakriert, unterdrückt und zum Sklaven gemacht. Die Arbeitskraft der Sklaven wurde total ausgebeutet für das Wohl, die Wirtschaft und den Reichtum der Kolonialherrscher, zum Beispiel in den Tee-, Kautschuk- und Baumwoll-Plantagen, natürlich unter der Begleitung der Peitschen des weißen 'Herrn'. Die Rohstoffe der kolonialisierten Länder wurden von den Kolonial-Herrschern geplündert für die Wirtschaft im eigenen Land, . . . . . . . . die Diamanten für die mächtige Krone, das Gold für den Schmuck der Paläste, die Kulturgüter der Urbewohner für die Museen und . . . . . und . . . . ." Mit einem lauteren Ton sprach der Vortragshalter dann: "Diese Leute der westlichen Welt haben immer von sich selbst behauptet, dass sie zivilisierte Menschen seien, trotz der Aggression, der Kriegsverbrechen, der Völkermorde, der Kulturvernichtung fremder Völker, der Vereinnahmung fremder Länder, der Kolonialverbrecher, der Menschenhändler, der Versklavung von Menschen". Der Vortragshalter sprach plötzlich sehr laut: "Sind das zivilisierte Völker? Nein, sie sind kulturlose Barbaren, Völkermörder . . . . . . . Sie sind Menschenverächter, weil sie nur Bestien in Menschengestalt sind. Dann noch wurde in den Kolonialisierungsländern der Glaube der Urbewohner verboten und mit Gewalt wurden sie zum Glauben an die Religion der Kolonialherrscher gezwungen. . . . . . . . . . Wer erlaubt ihnen das alles? . . . . . . . . . . . Man soll genau darüber nachdenken, genau hinschauen, was sie alles getan haben und noch tun, statt ihre Lügen zu hören."
Es war spät, schon später als sonst. Ich glaubte, dass nach der Arbeit alle Teilnehmer in der Halle wie ich nicht nur erschöpft waren, sondern auch hungrig weil es bereits sehr spät war. Ich hatte darauf gehofft, dass der Vortrag schnell zuende geht und wir dann schnell nach Hause gehen können, aber . . . . . . Nein! Uns wurde wie immer eine kleine Pause "gegönnt". Die kleine Pause war für mich wie ewig, sie nahm kein Ende. Anders als sonst hoffte ich, dass der Vortrag sofort anfangen sollte.
Nach der Pause hörten wir vom Podest: "Die USA, Führer des Welt-Imperialismus und deren Bündnispartner wie Kanada, Australien und Europa: wenn sie den Mund aufmachen dann hört man nur 'Demokratie, Menschenrechte, Freiheit' und 'Unabhängigkeit' aber das gilt nur für sie selbst. Wo sie hingehen, dort gibt es Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung und das Volk wird in Armut getrieben und die Länder in Elend verwandelt, so, das ist die Wahrheit." . . . . . . . . . Mit ausdrücklichem Ton sprach der Vortragshalter: "Diesen kulturlosen Barbaren, Kriegsverbrechern hat China im letzten Jahr, dem Jahr 1978, die Tür geöffnet und arbeitet nun mit ihnen zusammen. Mit der sogenannten '改革開放 (gaige kaifang) / Reform und Öffnung' hat China den kommunistischen Sozialismus der Arbeiterklasse der Welt verraten." Dann sprach er mit leisem Ton: "Die Reform ist unser Feind. China ist jetzt unser Feind."
Mit nachdenklichem Gesicht, die zwei Hände in die Hosentaschen gesteckt, ging der Vortragshalter auf dem Podest hin und her, nach ein paar Minuten sprach er: "Man wundert sich nicht, dass in den sechziger Jahren mit der 'Großen Kulturrevolution' zahllose unschuldige, wahre kommunistische Genossen, Intellektuelle und Menschen der Arbeiterklasse in China in der Öffentlichkeit gedemütigt, gefoltert wurden, im Gefängnis gestorben sind oder bis in den Tod getrieben wurden . . . . . . . . und . . . und . . . und . . . " Ich war gerade in Gedanken, dass der Mann auf dem Podest die Sache mit der '文化大革命 (Wénhuà dàgémìng) / Große Kulturrevolution' nicht ganz richtig erzählt hatte, plötzlich flüsterte Nhựt mir ins Ohr: "Das gleiche war damals passiert bei der 'Cải cách ruộng đất / Agrarreform' und beim Fall 'Nhân Văn - Giai Phẩm / Humanistisch-Meisterwerk' damals in Nordvietnam." Ich war geschockt, Nhựt hatte sich in dem Moment nicht selbst unter Kontrolle und brachte uns in eine bedrohliche Situation. Ich spürte, dass die Aufsichts-Genossen uns schon bemerkt hatten und zwei von ihnen kamen näher zu uns an den Anfang der Sitzreihe, wo Nhựt und ich saßen, und warteten auf einen Befehl des Mitgliedes der kommunistischen Parteizentrale der Stadt. Nhựt hatte mich auf die zwei Genossen aufmerksam gemacht, indem er mit seinem Fuß kurz meinen Fuß berührte. Ich saß ruhig, schaute nicht hin und tat, als sei nichts passiert, obwohl mein Innerstes angespannt war. In dem Augenblick ging ein Lichtblitz durch meine Gedanken und ich reagierte sofort, sagte mit ein wenig ungeduldigem Ton und ein bisschen lauter als normal: "Ja, ich habe auch schon Hunger". Der Vortragshalter brach seine Rede ab, als er mich hörte, so ist das vielleicht bei ihm noch nicht passiert, dass er während seines Vortrages so gestört wurde. Blitzschnell war ein Aufsichts-Genosse bereits auf dem Podest und flüsterte in das Ohr des Vortragshalter und gleichzeitig schauten die beiden in die Richtung wo Nhựt und ich saßen. In der kleinen Halle war es totstill, die Spannung stieg . . . . . . . . . was würde mit uns beiden . . . . . . . . Der Vortragshalter schaute mich circa drei Minuten lang genau an, mit einem nachdenklichen Gesicht voller Fragen, nachdem er auf seine Uhr geschaut hatte. Er drehte seinen Kopf dann zu dem Aufsichts-Genossen, der auf seiner rechten Seite stand, gab ihm ein Signal mit einer Kopfbewegung. Der Aufsichts-Genosse ging vom Podest herunter, ging in die Richtung zu den beiden Genossen, die an der Sitzreihe standen, wo Nhựt und ich saßen. Er ging zu den beiden Genossen, machte ein Zeichen mit seinen Augen, dann gingen die drei Genossen zu der Position zurück, auf der sie vorher gestanden hatten.
Nhựt hatte mir Tage später bei einer möglichen Gelegenheit erzählt: "Als ich sah, dass der Aufsichts-Genosse in unsere Richtung ging, dachte ich, wir werden aus der Halle geführt und dann irgendwohin gebracht. Ich hatte in dem Augenblick unbeschreibliche Sorgen." Nein, es war anders abgelaufen als Nhựt dachte. Zu Nhựt sagte ich: "Solange 'Er' (Der Vortragshalter, Mitglied der kommunistischen Parteizentrale der Stadt ) nicht weiss, dass du etwas gegen die Partei oder gegen das Regime in mein Ohr geflüstert hast, ist die Lage nicht so ganz schlimm, wie du gefürchtet hast. Es könnte als Unkonzentriertheit oder unabsichtliche Störung bei einer wichtigen politischen Ausbildung eingeordnet werden. Höchstens würden wir von der Firma gekündigt werden, dann ein paar Monate in ein Arbeitslager geschickt, um den Fehler wieder gut zu machen, aber wie du sieht, uns kann man noch nicht ersetzen. Aber wir standen schon in unserer Firma unter Beobachtung, was ich schon bemerkt hatte." Ich hatte Nhựt auch meine Vermutung geäußert: " 'Er' könnte dich befragen, aber 'Er' hatte vielleicht geschätzt, dass du dich an das, was ich in der Halle gesagt hatte, anpassen würdest. Nein, 'Er' hatte anders entschieden. Deswegen hatte 'Er' mich ein paar Minuten lang fest angeschaut, genau beobachtet, um über meine Reaktion festzustellen, ob was ich in der Halle gesagt hatte, ihn und die Genossen getäuscht hatte oder . . . . . . . . Aber bei mir war kein Zeichen von Unruhe, Sorgen oder Nervosität, die 'Er' bei mir bemerken könnte." . . . . . . . In Wahrheit war es unerklärbar: Ich hatte wirklich schon ein sicheres Gefühl, als ein Lichtblitz durch meine Gedanken ging und schnell reagierte, wie ich die Lage von uns retten könnte. Ich glaube bis heute, dass der Vortragshalter mich nicht durchschauen konnte. Ich konnte merken, dass er ein unsicheres Gefühl hatte, als er mich das erste Mal sah bei den Interviews bei der "politischen Ausbildung". Deswegen hatte er keine Befragung mit mir gemacht. Warum, weiß ich nicht. Auch in den weiteren Tagen spürte ich, dass er mich beobachtete und wenn sich unsere Blicke zufällig trafen, versuchte er sein unsicheres Gefühl zu verbergen. Ich gab Nhựt meinen Rat, dass das nicht noch einmal passieren darf, das es schlimm wäre, wenn unsere Familien auch mit hineingezogen würden. . . . . . . . . . . . Nhựt und seine Frau lebten mit seinen alten Eltern zusammen. Er war der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hatte, seine einzige Schwester war schon vor 1975 außer Haus verheiratet. " Du musst nicht in mein Ohr flüstern, wenn du Hunger hast, nicht in der Situation" sagte ich, Nhựt: "Ich wollte dir nur sagen, dass ich so einen Hunger hatte und konnte es nicht aushalten." Ich hatte dann gelacht und Nhựt auch.
Nachdem der Aufsichts-Genosse das Podest verlassen hatte, hatte der Vortragshalter so getan, als ob er alles im Griff hätte, aber ich merkte dass er noch Fragen und Unklarheiten in seinem Kopf verbarg. Wegen der Ereignisse, die mit Nhựt und mir gerade in der Halle passiert waren? Nein, das sollte für ihn, einen so hohen Parteifunktionär, ganz unbedeutend sein. Warum verlässt der Vortragshalter vor ihm mittendrin die "politische Ausbildung"? Ja, ich hatte verstanden: Er stand mitten im Machtkampf der Partei. . . . . . . . . . . . Es dauerte einen kleinen Moment, dann fing er wieder an zu sprechen mit einem neuen Thema: "Hunger, ja, Hunger, dieses Wort werden wir nicht mehr hören. Ein Wort, das vieleicht in unserer Zukunft nicht mehr existieren wird, weil es bei uns keine Menschen mehr gibt, die Hungergefühle haben. Weil es immer mehr als genug zu Essen gibt in unserem Land, ein Paradies, die 'Sozialistische Republik Vietnam'. Unter der Führung der kommunistischen Partei Vietnams und der Volksregierung, ist der Weg bis dahin nicht mehr weit, das Ziel ist schon vor unseren Augen, obwohl der Weg noch steil ist."
Der Vortragshalter redete weiter und weiter . . . . . . . und wir hatten gemerkt, dass nicht nur wir, die Teilnehmer, sondern auch die Aufsichts-Genossen, die rundum die Sitzreihen der Teilnehmer standen, erschöpft waren. Sie waren nicht nur erschöpft, sondern irgendwie auch unruhig. Einige von ihnen schauten auf ihre Uhr, dann flüsterten sie sich gegenseitig in die Ohren. So ein Verhalten von den Genossen hatten wir noch nicht erlebt! Hatten die "lieben" Aufsichts-Genossen schon vergessen, was die Partei sie gelehrt hatte: "Die kommunistische Partei Vietnams vor allem, dann die Volksregierung. Die Partei zu lieben bedeutet das Land zu lieben, das Land zu lieben ist die Familie und sich selbst zu lieben." Dennoch, sie sollen auch "gegen das Passive in sich selbst kämpfen, um mit mehr Aktivität der Partei zu dienen." Sie sind doch die "Helden der Nation". . . . . . . Aber sie sind auch nur Menschen wie wir . . . . . . . . Sie hatten auch schon Hunger und vielleicht warteten ihre Familien, Frauen und Kinder zu Hause auf sie . . . . . .
Auf dem Podest sprach der Vortragshalter immer noch weiter und sogar mit einem ein wenig schnelleren Tempo. Plötzlich hatte ich gemerkt, dass ich irgendwann unbewusst die Rede des Vortragshalter nicht mehr mitnotierte. Das war nicht gut, weil die Notizen für mich wichtig waren bei der "Diskussion", um dabei genau "meine Meinung" zu äußern. So etwas war mir noch nicht passiert. Was war los an diesem Tag? Normaleweise war ich immer konzentriert und hatte aufgepasst. Vielleicht wurde ich durch die unruhige Stimmung in der Halle abgelenkt? Nein, ich glaube Erschöpfung und Hunger waren für mich die richtigen Gründe. Was ein Mensch aushalten kann, hat auch eine Grenze! Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, was der Mann auf dem Podest in der letzten Stunde gesprochen hatte. Er hatte viel erzählt, aber alles ging an meinen Ohren vorbei. Ich zwang mich selbst wieder mich zu konzentrieren, sonst bekäme ich Probleme bei der "Diskussion".
Der Vortragshalter erzählte, dass er vor einigen Jahren mit in der Delegation der vietnamesischen kommunistischen Parteijugendunion in Moskau am Kongress der Vertreter der Internationalen Kommunistischen Parteijugendunion teilgenommen hat. Der Vortragshalter auf dem Podest: "Es gab endlos Konsumartikel und Lebensmittel. Wir konnten die Konsumartikel nehmen, soviel wie wir für uns gebraucht haben, und beim Essen konnten wir uns selbst bedienen und essen soviel wir wollten. . . . . . . . . Es dauert nicht mehr lange, dann ist es bei uns auch so ein Paradies. Bis dahin müssen wir noch fleißig arbeiten, unserer kommunistischen Partei treu sein und ihr folgen." Die Aufsichts-Genossen klatschten mit Begeisterung und wir, die Teilnehmer "natürlich" auch.
Es gab an dem Abend nicht nur Ungewöhnliches - der Vortragshalter: "Es gibt keine Diskussion heute Abend!" - . . . . . . . sondern auch Neues: "Jeder von euch schreibt ein 'Tự kiểm thảo / Selbstkritik' und einen Bericht über die eigene Meinung zur Politischen Ausbildung. Die beiden Berichte gebt ihr beim Parteibüro eurer Arbeitseinheit ab!" Ja, wir hatten verstanden: Gedanken- und Meinungskontrolle. Es kam für uns unerwartet . . . . . . . . . Der Vortragshalter sprach weiter: "Die Politische Ausbildung ist heute zu Ende." Nach dem Befehl an alle Teilnehmer "In stehende Position" sang dann die ganze Halle die internationale kommunistische Hymne, dann die Nationalhymne des kommunistischen Vietnam. In der Halle hörte man danach nur noch laut gesungen das Lied: "Như có bác Hồ trong ngày vui đại thắng / Wie Onkel Ho am großen fröhlichen Siegestag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vietnam Hồ Chí Minh, Vietnam Hồ Chí Minh, Vietnam Hồ Chí Minh . . . . . . . . . . . . ."
Statt im Mondschein und unter Sternen ging ich im Dunkeln und mit bedrückendem Himmel mit müden Schritten nach Hause. Als ich ankam war es bereits nach Mitternacht. Meine Eltern, meine Geschwister und ich hatten ein unbeschreibliches Gefühl, dass ich endlich zu Hause war. Wir waren froh, dass die sogenannte "Politische Ausbildung" endlich vorbei war.

...wird fortgesetzt...



© CHAU TRAN (QING LIAN)

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